Essen, Essen, Essen – wenn aus Hunger Anfälle werden

Eine Carte Blanche Prof. Dr. Simone Munsch und Andrea Wyssen*.

Auch normalgewichtige Kinder können eine Essstörung haben: Ein Mädchen isst vor dem Fernseher.

Dass mittlerweile rund jedes fünfte Kind übergewichtig ist, ist eine bekannte Tatsache. Was jedoch nur wenige wissen: Etwa sechs von hundert normalgewichtigen und bis zu vierzig von hundert übergewichtigen Kindern haben regelmässig Anfälle von übermässigem und unkontrolliertem Essen, «Essanfallsstörung» oder auch «Binge-Eating-Störung (BES)» genannt. Es ist die häufigste Essstörung und tritt auch bei rund vier bis fünf pro hundert Erwachsenen auf. Die BES ist eine schwerwiegende, aber behandelbare Störung. Das folgende Beispiel aus der Praxis (Name geändert) zeigt, wie sich eine solche Störung entwickeln kann und welche Möglichkeiten zur Behandlung es gibt.

Seit einiger Zeit geht die 10-jährige Eva nicht mehr gerne zur Schule und ist oft reizbar. Sie verkriecht sich in ihrem Zimmer und will allein sein. Die Eltern sind beunruhigt und beschliessen, mit der Lehrerin Kontakt aufzunehmen. Von ihr erfahren sie, dass Eva seit ein paar Wochen oft geärgert und ausgelacht wird. Die Lehrerin vermutet, dass die Hänseleien etwas mit dem Gewicht des Mädchens zu tun haben und damit, dass sie mit körperlichen Aktivitäten Mühe hat. Eva war zwar immer schon etwas «pummelig», aber in letzter Zeit hatte sich das verstärkt.

Die Eltern sprechen mit ihrer Tochter und möchten mehr über ihre Schwierigkeiten und die Gewichtszunahme erfahren. Eva wird wütend und zieht sich in ihr Zimmer zurück. Schliesslich aber erzählt sie schluchzend, dass sie gar nicht so viel essen wolle, es aber manchmal einfach passiere, vor allem, wenn sie sich zurückgewiesen fühle. Eva erzählt auch von ihrem Versteck mit Süssigkeiten in ihrem Zimmer und dass sie heimlich isst, wenn sie traurig ist. Oft kann sie dann kaum mehr aufhören damit und hat danach ein schlechtes Gewissen. Ständig sucht sie irgendwo etwas Essbares und schämt sich dafür.

Eva leidet unter einer «Binge-Eating Störung (BES)». Das Hauptmerkmal dieser Störung besteht in Essanfällen, die vom Betroffenen nicht kontrolliert werden können. Im Unterschied zur Bulimia Nervosa versucht das Kind danach nicht, die Kalorien durch exzessiven Sport oder Fasten loszuwerden. Deshalb nehmen betroffene Kinder zu und leiden häufig unter teils krankhaftem Übergewicht (Adipositas). Vordergründig leiden sie vor allem unter ihrem Gewicht und den Hänseleien, weshalb die Notwendigkeit der Behandlung der BES erst spät oder gar nicht erkannt wird.

Menschen mit einer BES haben eine beeinträchtigte Regulation der Hunger- und Sättigungsgefühle und Grübeln ständig über Nahrung und ihre Figur nach. Das ist ein Teufelskreis: Häufig werden sie wegen ihres Gewichts ausgelacht, was sich negativ auf den Selbstwert und das Körperbild auswirkt. Dies führt zu unkontrollierten Essanfällen, was wiederum die psychische Befindlichkeit beeinträchtigt. Oft kommt es mit der Zeit zu weiteren psychischen Störungen.

Viele Kinder mit BES haben Schwierigkeiten, mit belastenden Gefühlen umzugehen. Sie greifen auf Strategien wie Rückzug, Selbstabwertung oder auch aggressives Verhalten zurück, auch bei zwischenmenschlichen Schwierigkeiten. Obwohl Eva nicht will, so steuert doch der starke Drang zu essen ihr Verhalten. Einige Kinder zeigen diese Impulsregulationsstörungen auch in anderen Bereichen, wie in der Schule oder zu Hause. Eine entsprechende Behandlung ist daher für sie enorm wichtig. Da Eltern die wichtigsten Rollenmodelle ihrer Kinder sind, sollten sie unbedingt mit einbezogen werden.

Im Rahmen einer psychologischen Behandlung lernt Eva nun, mit der Hilfe eines Tagebuchs, Zusammenhänge zwischen ihrem Essverhalten, ihren Gefühlen und Gedanken zu erkennen. Sie lernt, wie sie sich ablenken oder abreagieren kann, wenn der Drang zu essen auftritt. Am wichtigsten ist jedoch, dass Eva mit ihren Eltern herausfindet, wie sie sich gegen Hänseleien wehren kann. Im Rollenspiel übt sie geeignete Vorgehensweisen ein. Erst wenn Eva das anfallsartige Essen selbst regulieren kann, wird ein gemeinsames Ziel zur Gewichtsstabilisierung definiert.

Am Zentrum für Psychotherapie des Departements für Psychologie (Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie) an der Universität Fribourg werden regelmässig Behandlungen für Kinder mit BES und ihre Eltern angeboten.

*Simone Munsch ist Ordinaria am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Mitautorin des Buches: «Binge Eating bei Kindern» Behandlungsempfehlungen, erschienen im Verlag Beltz Gelberg.

*Andrea Wyssen ist Doktorandin und Assistentin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie.

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