700 Paare könnten die Embryo-Tests nutzen – Tages

1. Worüber stimmen wir am 14. Juni ab?
Bei der Verfassungsabstimmung geht es um die Behandlung von Embryonen, die bei der Fruchtbarkeitsbehandlung (IVF) erzeugt werden. Neu sollen diese Embryonen genetisch untersucht werden dürfen. Das betrifft nur Paare, die auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen können oder eine schwere Erbkrankheit in der Familie haben. Das Verfahren heisst Präimplantationsdiagnostik (PID). Diese Technologie ist in der Schweiz im Fortpflanzungsmedizingesetz (FMedG) verboten. In der dem Gesetz übergeordneten Verfassung steht, dass nur so viele Embryonen erzeugt werden, wie der Frau sofort wieder eingepflanzt werden können – höchstens drei. Mit nur drei Embryonen ist die PID aber rein technisch nicht machbar. Dieser Verfassungsartikel soll nun gelockert werden, um die PID zu ermöglichen.

2. Wieso ist die PID eigentlich so wichtig?
Mit dieser Methode kann das Erbgut der im Reagenzglas hergestellten Embryonen untersucht werden. In erster Linie geht es darum, die IVF zu verbessern, weil damit genetisch gesunde Embryonen ausgewählt werden können. Je gesünder ein Embryo, umso grösser die Chance einer Schwangerschaft. Bei welchen Patienten eine PID angewendet wird, ist jedoch von verschiedenen Faktoren wie dem Alter der Frau oder der gesundheitlichen Vorgeschichte beider Partner abhängig. Die PID wird seit 20 Jahren angewendet und kontinuierlich optimiert. Sie ist heute in fast allen Ländern Europas erlaubt. In manchen Ländern wie Deutschland und Italien gelten aber sehr restriktive Regelungen.

3. Was passiert, wenn wir der Verfassungsänderung zustimmen?
Es eröffnen sich unabhängig vom Fortpflanzungsmedizingesetz neue Möglichkeiten für Paare, welche die Reproduktionsmedizin in Anspruch nehmen. Neue Verfahren müssen jedoch im angepassten Fortpflanzungsmedizingesetz geregelt werden, welches bereits vorliegt und von Parlament und Bundesrat abgesegnet worden sind. Stimmen die Schweizer Ja zur Verfassungsabstimmung, tritt die 100-tägige Referendumsfrist für das Fortpflanzungsmedizin­gesetz in Kraft.

4. Welche Folgen hat ein Nein zur Verfassungsänderung am 14. Juni?
Die Verfassungsänderung tritt nicht in Kraft, und das alte FMedG bleibt gültig. IVF ist erlaubt, jedoch keine PID. Es dürfen nur so viele Embryonen entwickelt werden, wie sofort eingesetzt werden können. Die Embryonen dürfen nicht aufbewahrt werden. Gelagert werden heute nur die befruchteten Eizellen. Das sind Vorstadien der Embryonen. Beim Embryo ist – anders als bei einer befruchteten Eizelle – das Erbgut von Vater und Mutter verschmolzen.

5. Welche Nachteile hat ein Nein?
Die IVF in der Schweiz hat tiefe Erfolgsraten und ein hohes Risiko an Mehrlingsschwangerschaften. Den Paaren bleibt wie bei der natürlich gezeugten Schwangerschaft nur die Pränataldiagnostik – also Tests am Ungeborenen. Ergibt diese Hinweise auf Erbkrankheiten oder Chromosomenfehler wie Trisomie 21, folgt fast immer eine Abtreibung. Die Befürworter der PID sprechen von «Schwangerschaft auf Probe».

6. Was passiert, wenn das Referendum gegen das neue FMedG nicht zustande kommt?
Wird das Referendum nicht erreicht, tritt das neue FMedG im Jahr 2016 in Kraft.

7. Wie geht es nach einem Referendum weiter?
Da verschiedene Organisationen und Parteien ein Referendum angekündigt haben, ist eine zweite Abstimmung höchstwahrscheinlich. Die Gegner befürchten, dass mit der Zulassung der PID einer Selektion von menschlichen Embryonen Tür und Tor geöffnet wird. Kommt das Referendum zustande, wird das Schweizer Volk noch einmal zur Urne gerufen und voraussichtlich im Laufe des Jahres 2016 über das Fortpflanzungsmedizingesetz abstimmen können. Diese regelt die PID konkret: Wie viele Embryonen dürfen getestet werden, wer darf sie testen, was darf getestet werden, wie lange dürfen Embryonen aufbewahrt werden
etc. . . .

8. Was passiert, wenn das Volk dem neuen FMedG zustimmt?
Im neuen FMedG wird die PID nur zur Verhinderung von schweren Erbkrankheiten und für die Feststellung von Chromosomenfehlern erlaubt. Bedingung ist auch die Einwilligung des Paares. Weiterhin verboten sind Retter­babys. Auch die Geschlechtswahl (was prinzipiell möglich ist) und die Auswahl von äusserlichen Eigenschaften (Designerbabys) bleiben verboten. Erlaubt wären nach einem Ja zur Verfassung und zum FMedG aber künftig auch die Auswahl des fittesten Embryos sowie das Einfrieren überzähliger Embryonen, die zum Beispiel bei der ersten Behandlung nicht gebraucht werden. So müssten die Paare, wenn bei der ersten Behandlung keine Schwangerschaft eintritt, die belastende Prozedur der Eizellentnahme nicht noch einmal durchmachen. Weiterhin verboten bleibt die Embryonenspende an andere Frauen sowie jegliche Arten der Leihmutterschaft. Die immer häufiger angewendete Eizellspende bleibt verboten. Möchte man in Zukunft eine Eizellspende ermöglichen, müsste aber lediglich das FMedG geändert werden, nicht aber die Verfassung.

9. Gibt es ein Chaos, wenn das Volk zwar Ja zur Verfassungsänderung aber später Nein zum Gesetz sagt?
Bundesrat und Parlament müssten ein neues FMedG ausarbeiten. Wie Bundesrat Alain Berset in einem Interview gemutmasst hat, könnte dieser Prozess gut und gerne 10 Jahre dauern. Bis dahin würde die jetzige strenge Regelung gelten. Auch ein neu ausgearbeitetes FMedG müsste sich dann nach der neuen Verfassung richten. Vermutlich würde die PID dann erlaubt werden, aber nur zur Verhinderung von schweren Erbkrankheiten, was rund 180 Paare pro Jahr betreffen würde. Es wäre erneut ein gutschweizerischer Kompromiss, zulasten vieler Paare, die sich für eine künstliche Befruchtung entscheiden. Das sind heute etwa 6000 pro Jahr, bei insgesamt 700 von ihnen wäre eine PID sinnvoll.


Podiumsdiskussion mit Kathy Riklin, Peter Schaber, Ernst Hafen u. a.: 26. Mai, 18.30 Uhr, ETH Zürich. www.reatch.ch (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 21.05.2015, 19:05 Uhr)

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