Psychologie – „Die Rituale kann man sich festhalten“

Der Sportpsychologe Werner Mickler lehrt an der Deutschen Sporthochschule in Köln und unterrichtet angehende Fußball-Lehrer beim DFB in Sportpsychologie und Medienkompetenz. Im FR-Interview spricht er vor dem Saisonfinale des SV Darmstadt 98 und des FSV Frankfurt über Motivationstricks und dass es in Krisen gut ist, sich an Verlässlichem zu orientieren.

Herr Mickler, ganz Darmstadt ist im emotionalen Grenzzustand, weil am letzten Spieltag die Lilien in die erste Liga aufsteigen können. Wie kann Trainer Dirk Schuster diesen öffentlichen Druck von seiner Mannschaft fernhalten?
Indem er nicht sagt, was alle von ihm erwarten – dass der SV Darmstadt 98 aufsteigen wird. Er ist clever genug zu wissen, dass solche Äußerungen genau das Gegenteil bewirken können. Man kann ihn als Spaßbremse bezeichnen, ich nenne es realistisch. Es wäre ja schlimm, wenn man die grandiose Darmstädter Saison am Ende schlecht reden würde, sollte der Aufstieg nicht gelingen.

Trotzdem muss Schuster Traumbilder in den Köpfen seiner Spieler zerstören.
Das hat er schon die ganze Saison gemacht. Und deswegen wird er auch das Finale genauso angehen. Etwas anderes darf er ja auch nicht machen, alle haben ja gesehen, dass sein Weg bisher funktioniert hat.

Darmstadt hätte schon vorigen Sonntag den Aufstieg sichern können – und ist gescheitert. Ist jetzt der Druck zu groß, weil man erstmals der Favorit ist?
Schuster muss es jetzt gelingen, dass seine Spieler nicht dauernd auf die Tabelle schauen und deswegen ins Grübeln und am Ende unter Siegesdruck kommen.

Wie denn? Vor und während dieses Spiels regiert einzig die psychische Komponente. Irgendwelche Taktiken zählen kaum noch.
Wichtig ist, dass Schuster seine Rituale beibehält. Und dazu gehört, dass sich das Team immer auf das unmittelbar bevorstehende Match konzentriert hat. Egal, was drum herum passiert. Und Schuster muss sich im Training bei jedem Spieler vergewissern, dass er eine genaue Vorstellung von seiner individuellen Aufgabe am Sonntag hat. Nichts anderes.

Würde es helfen, wenn er den Spielern riete, nicht mehr die Zeitungen zu lesen?
Das wäre eine Möglichkeit. Denn derzeit regiert doch in den Medien das große Schulterklopfen, überall wird vom Aufstieg geschrieben. Deswegen könnte es jetzt in manchen Spielerköpfen rattern. Wenn sich Spieler von Medien unter Druck setzen lassen, dann ist die tägliche Zeitungslektüre kontraproduktiv.

Sie haben Schuster in seiner Trainerausbildung unterrichtet. Wie war er denn als Schüler?
Fleißig, wissbegierig. Fleißig war er auch als Spieler, und so ist er heute Trainer. Ein emsiger, bodenständiger Arbeiter, der genau weiß, was er zu tun hat und sich von außen nicht beeinflussen lässt, um sein Ziel zu erreichen.

Einige Kilometer weiter nördlich kämpft der FSV Frankfurt gegen den Abstieg. Nun hat der Verein Trainer Möhlmann und Sportdirektor Stöver entlassen. Tomas Oral soll das Team retten. Was bringt so etwas aus psychologischer Sicht?
Es ist die Frage, wie die Mannschaft mit so einem Impuls umgeht.

Oral hat die Mannschaft erstmal durch eine Autowaschstraße geschickt, um die Sünden der Vergangenheit abzuwaschen. Halten Sie das nicht für Kasperltheater?
Es kommt auch hier wieder darauf an, wie die Spieler so etwas aufnehmen. Entweder, sie fühlen sich veralbert – oder es bewirkt, dass sie dadurch wirklich bei null anfangen. Oral hat ja beim FSV gewisse Erfolge erzielt, vielleicht glauben ihm deswegen die Spieler, weil sie sagen: Okay, der kennt sich in dem Verein gut aus, der weiß, was er macht.

Ralf Rangnick hat gesagt: Man kann nicht motivieren, nur inspirieren. Die Motivation muss vom Spieler selbst kommen.
Das stimmt. Ich glaube nicht, dass die Nummer mit der Waschanlage ein Motivationstrick ist, vielmehr ist sie als Metapher zu verstehen, das Vergangene los zu werden. Oral muss den Spielern klar machen, dass sie die Chance haben, in diesem einem Spiel am Sonntag alles regeln zu können.

Hat es der FSV einfacher als Darmstadt? Schließlich spielt er nicht unter diesem öffentlichen Druck bei Fortuna Düsseldorf, für die es um nichts mehr geht.
Die Mannschaft steht unter keinem angenehmen Druck. Möglicherweise wäre dieser daheim noch stärker, weil das eigene Publikum bei jeder misslungenen Aktion pfeifen würde. Es ist aber die Frage, ob Fortuna das Match locker nimmt, denn die Spieler wollen sich ja möglicherweise für ihren neuen Trainer Frank Kramer präsentieren. Aber das ist letztlich alles nicht wichtig. Vielmehr muss Tomas Oral es schaffen, dass die FSV-Spieler den Negativ-Lauf der zurückliegenden Spieler aus den Köpfen bekommen.

Sollte der FSV Frankfurt scheitern, müsste er eine Blamage erklären. Trainerentlassung, Waschstraßenaktion – den Verein könnte die Häme der Branche treffen.
Ja, das ist denkbar. Wenn Sie als Trainer oder Verein ein Ziel nicht erreichen, egal, was Sie manchen, werden Sie öffentlich immer hinterfragt.

Zurück zu Darmstadt: Vielleicht schaffen die Lilien den Aufstieg am Sonntag nicht. Wie müsste Schuster auf diese Situation kommunikativ reagieren? Jedes Wort wäre doch zu viel?
So etwas Dramatisches gab es ja schon, wenn ich an Mainz 05 erinnern darf.

Sie meinen, als die Mannschaft 2003 trotz eines 4:1-Sieges in Braunschweig nicht aufstieg?
Genau. Trainer Jürgen Klopp hat damals ausgezeichnet reagiert, indem er die Gründe fürs Scheitern erklärte und versprach, im nächsten Jahr wieder anzugreifen. Und sie haben es ja dann letztlich geschafft. Daran können sich Schuster und die Lilien orientieren. Denn ein Rückschlag am Sonntag würde doch nicht bedeuten, dass Darmstadt nie wieder die Chance hat, in die erste Liga aufzusteigen.

Schuster hat praktisch nie von Aufstieg gesprochen. Irgendwann wurde es peinlich. Warum traut man sich im deutschen Sport nie, optimistische Ziele zu formulieren?
Eine Zielveränderung muss zu den Möglichkeiten passen. Daher hat Darmstadt 98 alles richtig gemacht. Was wäre denn gewesen, man hätte am 25 Spieltag von Aufstieg gesprochen, und zwei wichtige Spieler hätten sich verletzt? Realitätssinn ist in diesem Geschäft ganz wichtig.

Amerikanische Sportler würden nie so defensiv kommunizieren.
Amerikaner formulieren immer positive Ziele. Weil sie glauben, die Größten und die Besten zu sein, hinterfragen sie sich selten – auch wenn sie scheitern.

Entsprechen Arbeiten und Denken in kleinen Schritten deutscher Mentalität?
Wir können von anderen Nationen viel lernen. Aber uns Deutsche zeichnet ein Vorteil aus: Wir können genau analysieren, wie bestimmte Leistungen zustande gekommen sind. Und das versuchen wir auch, den angehenden Fußballlehrern beizubringen.

Nehmen Sie Schuster nun in den Lehrplan als gutes Beispiel auf?
Erst einmal ist es außergewöhnlich, wie gut Verein und er zusammenpassen. Ich glaube nicht, dass bekannte Trainer wie etwa Ottmar Hitzfeld in Darmstadt glücklich werden würden. In unseren Beispielen in der Trainerausbildung wollen wir den Absolventen auch zeigen, wie man Druck von einer Mannschaft nimmt. Und hier können künftige Trainer von Dirk Schuster einiges lernen.

Interview: Steffen Gerth

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