Zum Tod von Horst-Eberhard Richter – Ingenieur der Seele, Vordenker des Friedens


Ein Nachruf von
Bernd Graff

Der Arzt und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter war die Leitfigur der Friedensbewegung und einer ihrer klügsten, umfassendsten Denker: Er hat jenes gewissentragende Deutschland geprägt, das zwar außerparlamentarisch, aber politisch war.

Horst-Eberhard Richter, der Denker, Arzt, Psychoanalytiker, Friedensbeweger und begnadete Redner ist tot. Er starb im Alter von 88 Jahren. Ein Jahrhundertleben! Richter hat die Wirren der Rezession der 20er Jahre, den Horror Nazi-Deutschlands und des Krieges, Gefangenschaft und Verlust, Kalten Krieg, Wiederaufrüstung, Vergangenheitsbewältigung und Friedensbewegung, die Saturiertheit des Westens, den Aufbruch des Ostens, die neuen Religionskriege und Gräuel des ausgehenden 20. Jahrhunderts als Augenzeuge erlebt und kommentierend begleitet.

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Mann mit Mission: Richter während einer Rede anlässlich der kirchlichen "Friedenswerkstatt" 1983 in Berlin.
(© dpa)

Richter war ein Stiller, aber er war kein stiller Dulder. Er nahm teil, nahm formend Anteil, ja prägte jenes gewissentragende Deutschland, das zwar außerparlamentarisch, aber politisch war. Richter galt zu Recht als Leitfigur der Friedensbewegung und als einer ihrer klügsten, umfassendsten Denker. Wo auch immer das vergangene Jahrhundert Dynamik gewann, war Richter sein analytischer Begleiter und wirkmächtiger Kommentator.

Horst-Eberhard Richter wurde 1923 in Berlin geboren. Mitten hinein in die noch junge Weimarer Republik, hinein in die ökonomischen Wirren der sogenannten Golden Twenties. Er ist das einzige Kind seiner Eltern, sein Vater ist Ingenieur, ein homo faber. Richter erlebt den Aufstieg der Nazis, wird mit 18 Jahren zum Militär eingezogen, beginnt 1943 in Berlin ein Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie.

Immer wieder muss er das Studium unterbrechen, weil er zu Kriegseinsätzen an die Ostfront und nach Italien einberufen wird. Irgendwann vor Kriegsende desertiert er in Italien, versteckt sich in einer Berghütte in Nordtirol, gerät in französische Gefangenschaft und bleibt bis 1946 in Innsbruck interniert. Nach seiner Freilassung erfährt er das Furchtbarste: Seine beiden Eltern, den Krieg hatten sie überlebt, wurden im Sommer 1945 auf einem Spaziergang von zwei betrunkenen russischen Soldaten umgebracht. Richter bleibt in Berlin, setzt sein Studium fort, promoviert 1949 zum Dr. phil., lässt sich zum Psychiater ausbilden und promoviert 1957 noch einmal zum Dr. med.

Pioniere der psychoanalytischen Familienforschung und Familientherapie

Richter konzentriert sich auf die Psyche der Kinder und psychosomatische Störungen. 1962 wird auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik nach Gießen berufen und gleichzeitig mit dem Aufbau einer Psychosomatischen Klinik betraut. In Zusammenarbeit mit Kollegen anderer Fachrichtungen entsteht so am Klinikum der Universität Gießen ein interdisziplinäres Zentrum mit Abteilungen für klinische Psychosomatik, medizinische Psychologie und medizinische Soziologie, das Modellcharakter erhalten sollte. Von 1973 bis zu seiner Emeritierung 1991 blieb Richter Geschäftsführender Direktor dieses Zentrums. 1992 bis 2002 leitete er in gleicher Eigenschaft das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut.

Richter war einer der Pioniere der psychoanalytischen Familienforschung und Familientherapie im deutschen Sprachraum. Man sagt, er habe Freud und C. G. Jung vom Kopf auf die Füße gestellt. Richter verstand sich gewissermaßen als Ingenieur für die Seele. Seine anhand zahlreicher familienbiographischer Studien entwickelte Theorie von unbewussten Beziehungskonflikten zwischen Eltern und Kind als Hintergrund kindlicher Störungen wurde international als wesentliche Ergänzung zu Freuds Theorie des Kind-Eltern-Verhältnisses anerkannt und hat durch das Standardwerk Eltern, Kinder und Neurose, das in ungezählten Auflagen erschien und als Standardwerk gilt, der Kinderpsychologie und der Erziehungswissenschaft eine neue Sichtweise eröffnet.

Auch seine psychosomatische Forschungsarbeit und seine sozialphilosophischen Beiträge fanden große Beachtung. Zusammen mit Dieter Beckmann entwickelte er den Gießen-Test, einen Fragebogen zur Individual- und Gruppendiagnose, der sich in der klinisch-psychologischen und in der sozial-psychologischen Forschung inzwischen weltweit bewährt hat.

Richters Gotteskomplex

In den siebziger Jahren wurde Richter auch international bekannt als Analytiker von Gruppenprozessen und Institutionskonflikten. Er analysierte die aufbrechenden Intergenerationenkonflikte in Deutschland als Auseinandersetzung mit der bislang verschwiegenen Nazi-Vergangenheit. Eine Reihe von Veröffentlichungen, die außer im Buchhandel massenhaft als Raubdrucke vertrieben wurden, beschäftigten sich mit den Motiven, den Konflikten und Chancen ambitionierter Reformprojekte, die der Achtundsechziger-Rebellion als Versuche zu einer gesellschaftlichen Humanisierung folgten. Dazu gehörten Kinderläden, psychoanalytische Selbsterfahrungsgruppen, psychosoziale Arbeitsgemeinschaften, Arbeit mit Gefangenen und die große Psychiatriereform.


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