Zivilisation macht Kopfweh – Tages

Kopfweharzt Ronald Langner arbeitet auf einem Gebiet, das immer mehr Menschen tangiert. «Schaut man die Zahlen an, ist Migräne eine der häufigsten Kopfschmerzformen», sagt der 38-jährige Neurologe. 10 bis 15 Prozent aller Menschen leiden daran, damit komme Migräne weit häufiger als Diabetes vor. Mit zunehmender Alterung der Bevölkerung steigen die neurologischen Erkrankungen weiter an; aber auch immer mehr Kinder seien betroffen.

Langner zählt die Migräne klar zu den Zivilisationskrankheiten. Die Computer- und Handygesellschaft sei besonders ­migräneanfällig, sagt der gebürtige Deutsche, weil die digitale Welt das ­Leben enorm beschleunigt habe und der Druck und die Belastung jedes Einzelnen dadurch stark gestiegen sei.

Als Ronald Langner nach dem Medizinstudium seine Karriere als Schmerz- und Kopfwehspezialist startete, traf er an Kongressen noch ein paar Hundert Kollegen. Heute sind es Tausende Fachleute. Trotzdem gebe es in der Schweiz im Vergleich etwa zu den USA erst ­wenige spezialisierte Kliniken. Als stellvertretender Leiter des Kopfwehzentrums Hirslanden arbeitet Langner für das erste private Zentrum dieser Art in der Schweiz.

Helfen mit Schmerzmitteln

Für eine typische Erstuntersuchung ­eines Migränepatienten nimmt sich Langner anderthalb Stunden Zeit. In erster Linie gehe es ihm dabei darum, alle möglichen Ursachen herauszufinden. Dazu werden heute bildgebende Verfahren und Ultraschall, aber auch die Labordiagnostik benutzt. Doch der Patient ist für ihn nicht nur Körper, Gehirn und Rückenmark, sondern auch Seele. Ein guter Neurologe berücksichtige auch die psychische Ebene, sagt Langner, die häufig Einfluss auf eine chronische Schmerzerkrankung wie Migräne habe.

Nach der Diagnose möchte der Arzt aber auch helfen, und dazu gehören schmerzlindernde Medikamente: In der Akuttherapie der Migräne leiteten die Triptane vor rund 20 Jahren eine Revolution ein, weil sie Migräneattacken in kürzester Zeit beenden können. Allerdings können Triptane diverse Nebenwirkungen aufweisen. Kommt hinzu, dass sich bei übermässigem Gebrauch ein Gewöhnungseffekt einstellt und die Schmerzempfindlichkeit im Verlauf der Therapie wieder steigen kann. Deshalb versucht Langner, mit vorbeugenden Therapien die Triptane überflüssig zu machen oder sie zumindest zu reduzieren. So setzt er – abhängig vom Patienten und seiner Leidensgeschichte – ­Botox, Magnesium, Antiepileptika oder auch Betablocker ein, um den Schmerzmittelkonsum zu reduzieren.

Langner ist seit 2009 am Kopfwehzentrum Hirslanden und hat sich hier zum Kopfwehspezialisten entwickelt. Zuvor hatte er in Jena studiert und als junger Arzt an einem grossen Neuro­zentrum in Bayreuth eine Station für Schlaganfallakuttherapie geleitet. Dann habe ihm das Herz den Weg in die Schweiz gewiesen, sagt Ronald Langner. Schon während des Studiums sei er ­immer mal nach ­Zürich gefahren, «wo das Leben schöner und interessanter ist». Heute ist ihm Zürich zur zweiten Heimat geworden. Er behandelt im Kopfwehzentrum Hirslanden zunehmend auch Schlag­anfall- und Parkinsonpatienten oder solche mit Autoimmun­erkrankungen wie multiple Sklerose (MS). Zurzeit ist er dabei, eine MS-Ambulanz aufzubauen.

An der Neurologie fasziniere ihn die Vielseitigkeit der Krankheitsbilder, aber auch die offensichtlichen Parallelen zwischen den Krankheiten. Bei einem guten Neurologen müssten Finger und Kopf ­intuitiv zusammenarbeiten, sagt Langner. «Bei Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall etwa taste ich den Patienten ab, um zu einer Diagnose zu kommen.»

Langner hat zudem eine psychiatrische Ausbildung im Psychiatrie-Zentrum Hard in Embrach absolviert, wie er sagt. Auch diese Erfahrung helfe ihm, die Ursachen der Migräne besser zu erkennen, denn diese könnten auch in der Angst, bei Stress, bei Leistungsdruck oder in einer Depression liegen. Bei ­depressiven Patienten beispielsweise stelle man oft eine Absenkung der Schmerzschwelle fest. «Diese Patienten spüren Schmerzen häufiger und intensiver», sagt Langner.

Die wichtige Güterabwägung

In der Praxis heisst das für den Neuro­logen, die Leitlinien für die Behandlung der Migräne nicht stur zu befolgen. Mitunter nütze es wenig, einen Schmerz- oder Migränepatienten mit Schmerz­mitteln zu behandeln. Wenn es einem Patienten psychisch schlecht gehe oder er in einer Depression stecke, könne er manchmal gar nicht aus der Schmerzkrise herausfinden. Dann müsse man primär die Depression behandeln.

Angesichts der häufigen Korrelation von Depression und Migräne verschreibt Langner öfter ein Antidepressivum, um die depressive Störung zu behandeln – mit dem Resultat, dass damit oft auch die Schmerzbelastung abnehme. Zudem entfalten Antidepressiva ihre Wirkung oft auf dieselbe Weise wie Schmerz­mittel. Saroten zum Beispiel, ein klassisches Antidepressivum, sei sehr wirksam gegen Schmerzen, habe aber häufig Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder Gewichtzunahme. Die Kunst des Arztes ist es dann laut Ronald Langner, in ­jedem Einzelfall die richtige Güterab­wägung zwischen Schmerzreduktion und Nebenwirkungen vorzunehmen.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 01.10.2014, 18:22 Uhr)

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