"Wo endet selbstbewusst, wo beginnt frech" – WESER

Was heißt heute normal? Gibt es in der Gesellschaft, in Schule und Kindergarten eine klare Vorstellung davon, wie sich ein Kind zu verhalten hat und wie nicht?

Malte Mienert: Die Vorstellungen davon sind immer subjektiv geprägt, da wir es beim menschlichen Verhalten immer mit unklaren Begriffen zu tun haben. Wo endet selbstbewusst, wo beginnt frech? Wo endet aktiv, wo beginnt hyperaktiv? Häufig sind solche Vorstellungen auch von der eigenen Erziehung und Biografie geprägt. Wie selbstbewusst und aktiv durfte ich selbst sein und wie viel halte ich nun bei den Kindern aus?

Wie sieht die Realität in Schulen und Kindergärten aus? Vor welchen Problemen stehen Lehrerinnen und Erzieherinnen?

Die Breite an unterschiedlichen Verhaltensweisen hat zugenommen und korrespondiert mit der Breite an gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was normal und wünschenswert ist. Durch Integration und Inklusion sind Pädagogen heute mit Verhaltensweisen konfrontiert, die früher in den Aufgabenbereich abgetrennter Förder- und Sondereinrichtungen gefallen wären.

Wie erleben Kinder die Realität?

Kinder treffen mit ihren individuellen Verhaltensweisen auf unterschiedliche Erwachsene, die Unterschiedliches aushalten und fördern. Was den einen Erwachsenen stört, ist für den anderen ein Hinweis auf eine gute Entwicklung, zum Beispiel Aktivität. Kinder sind diplomatisch, selten haben sie die bewusste Absicht, Erwachsene zu ärgern. Dass ihr gleiches Verhalten so unterschiedliche Reaktionen hervorruft, verwirrt sie. Besonders problematisch im Alltag ist die Situation für die verhaltensunauffälligen, stillen, zurückgezogenen Kinder, die zwar ebenfalls möglicherweise nicht normal sind, aber wenig stören und damit kaum Aufmerksamkeit und Beziehung erfahren. „Schlingel werden Bosse“ – die Aussichten für auffällige Kinder sind zumeist gut. Für die braven angepassten Kinder gilt das nicht unbedingt.

Früher gab es klare Vorgaben wie Pünktlichkeit und Fleiß, Aufmerksamkeit und Disziplin. Jeder kannte die Regeln, und das Kind wusste, woran es war. Heute ist der Freiraum viel größer. Im Zuge der Individualisierung treten Wahlmöglichkeiten an die Stelle von starren Normen. Sind die Kinder damit nicht überfordert?

Kinder waren früher nicht braver oder weniger aggressiv. Geändert hat sich die gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber auffälligen Verhaltensweisen. Früher hieß es: „So sind Kinder eben“. Selbst Kinder aus einer strengen Erziehung haben ihre Nischen gefunden, draußen, beim Spiel mit Freunden, in der Gleichaltrigen- gruppe. Wir sind heute weitaus weniger bereit, grenzüberschreitendes Verhalten zu akzeptieren. Kinder sind geschickt darin, sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Eine Überforderung durch Individualisierung sehe ich eher auf Seiten der Erwachsenen, nicht auf Seiten der Kinder. Keiner wünscht sich die Rückkehr zu den Kommandofamilien von einst. Dass das Zusammenleben in Verhandlungsfamilien schwer sein kann, ist wahr, aber eine Alternative dazu gibt es nicht.

In Ihrem Vortrag geht es darum, auffälliges Verhalten von Kindern besser verstehen zu lernen. Wie äußert sich auffälliges Verhalten in Schule und Kindergarten?

Auffällig ist zunächst das Verhalten, das auffällt, weil es vom durchschnittlichen Verhalten aller Kinder abweicht. Das kann zum Beispiel Verhaltensüberschuss sein – lautes, aggressives, hyperaktives Verhalten – oder aber auch Verhaltensmangel wie Rückzug, Schüchternheit, Überangepasstheit. Leider wird aus meiner Sicht zu häufig auf Verhaltensüberschuss reagiert, wo doch längerfristig größere Probleme bei Verhaltensmangel auftreten können.

Wie könnten oder sollten Lehrer und Erzieher darauf reagieren?

Zunächst gilt es, das Verhalten genau und neutral zu beobachten, um aus der Falle der eigenen Werturteile, Interpretationen und des eigenen Kopfkinos herauszukommen. Dies hilft bei einer realistischen Einschätzung der Verhaltensfolgen. Ist das Verhalten wirklich so schlimm oder glaube ich nur, es könnte möglicherweise schlimm werden? Im dritten Schritt ist nach Ursachen des Verhaltens zu fragen. Kinder zeigen alle ihre Verhaltensweisen aus bestimmten Gründen, die mir aber selbst häufig nicht bekannt sind. Jeder Mensch versucht durch sein Verhalten, seine Situation, seine Anforderungen und seine Probleme bestmöglich zu bewältigen. Ist eine solche Ursache gefunden, so gilt es gemeinsam mit dem Kind zu überlegen, wie es das Problem auf andere Art bewältigen könnte. Verbieten allein reicht somit nicht aus.

Wie werden Erzieher auffälligen Kindern gerecht? Wie finden Sie einen Zugang?

Alle Erzieher müssen zunächst eine gute Beziehung zu allen Kindern aufbauen, die auch tragfähig ist, wenn Verhaltensprobleme auftreten. Ohne individuelle Beziehung ist keine Erziehung möglich. Der Zugang zum Kind gelingt durch ein ehrliches, vorurteilsfreies Gespräch zu den sachlichen Beobachtungen, die vom Kind gemacht wurden. Dabei gilt es, auf Interpretationen und Verallgemeinerungen zu verzichten – „Du bist immer so aggressiv!“ – und stattdessen die aktuelle Situation konkret zu schildern: „Heute beim Freispiel auf dem Hof habe ich beobachtet, wie Du Deine Hand mit einer schnellen Bewegung in Pauls Gesicht geführt hast. Paul hat die Augen weit geöffnet, Tränen sind aus seinen Augen gelaufen.“ Diese Vorgehensweise erscheint zunächst sehr künstlich, aber sie ermöglicht es dem Kind, sein eigenes Verhalten und dessen Folgen sachlich einzuschätzen und eigene Beweggründe vorurteilsfrei zu erläutern.

Aggressives Verhalten löst in Erwachsenen Emotionen aus. Sie sprechen von Kopfkino und Katastrophenfantasien. Was können Erzieher dagegen tun?

Nichts ist falsch an eigenen Emotionen und Interpretationen. Sie sind nur von der sachlichen Situationsschilderung zu trennen. Die eigenen Interpretationen des Verhaltens sagen zumeist mehr über den Erzieher und seine Biografie aus als tatsächlich über das Kind. Insofern ist es wichtig, auf katastrophisierende Reaktionen zu verzichten, sich Zeit zu nehmen und von der aktuellen Situation einen Schritt zurückzutreten. Was ist meine Interpretation? Warum reagiere ich auf dieses Verhalten so empfindlich? Welcher wunde Punkt ist dadurch bei mir berührt worden? Gibt es neben meiner Interpretation vielleicht auch andere Interpretationen? Wie schätzen meine Kollegen die Situation ein? Der einzige Mensch, der mir über die Gründe für sein Verhalten Auskunft geben kann, ist das Kind selbst. Dazu muss es allerdings die Chance bekommen, ohne sich gegen heftige Emotionen und Interpretationen des Erziehers wehren zu müssen.

Verhaltensauffällige Kinder ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Unauffällige, schüchterne, in sich gekehrte Kinder offenbaren ihre Probleme nicht.

Für den Alltag gilt, dass 20 Prozent der Kinder 80 Prozent meiner Aufmerksamkeit bekommen, während sich die übrigen 80 Prozent der Kinder 20 Prozent meiner Aufmerksamkeit teilen. Dies halte ich für sehr gefährlich. Nicht immer wird es gelingen, die Aufmerksamkeit von den auffälligen Kindern abzuziehen. Das erscheint auch nicht angeraten. Wichtig ist, sich immer wieder selbst zu überprüfen: „Habe ich heute mit allen Kindern wenigstens ein persönliches Gespräch gehabt? Habe ich nach dem Zwischenfall das angegriffene Kind genauso aufmerksam beachtet wie den Angreifer? Wem hat meine erste Aufmerksamkeit gegolten?“ Sonst lernen auch unauffällige Kinder, dass sie nur auf grenzüberschreitende Art und Weise die Beziehung erfahren, die sie genauso möchten wie die auffälligen Kinder. Oder sie kapseln sich ab und sind für Beziehungs- und Lernangebote kaum noch erreichbar.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Früher sprach man von Elternarbeit und teilte den Eltern mit, wie sie ihre Kinder zu erziehen hatten. Für Fehlentwicklungen wurden automatisch die Eltern verantwortlich gemacht, ein Phänomen, das wir als pädagogische Elternschuldhypothese bezeichnen. Heute betonen wir die Erziehungspartnerschaft mit den Eltern. Diese geht davon aus, dass Eltern und Erzieher gemeinsam Verantwortung für die Erziehung tragen, allerdings in zwei völlig unterschiedlichen Lebensbereichen, die mit unterschiedlichen Erziehungszielen und Vorgehensweisen verbunden sein können. Eltern sind für die Erziehung der Kinder zu Hause zuständig, da soll sich kein Erzieher einmischen. Demgegenüber sind die Erzieher die Fachleute für die Erziehung der Kinder in der pädagogischen Einrichtung, und das haben die Eltern zu respektieren. Mein Tanzbereich – Dein Tanzbereich, so kann die Partnerschaft gut funktionieren. Schwierig wird es immer dann, wenn Übergriffe zwischen den Tanzbereichen passieren. Solchen Übergriffen ist durch kontinuierliche Abstimmung über die unterschiedlichen Beobachtungen vom Kind und den Erziehungszielen zu begegnen.

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