„Wir brauchen mehr mündige Bürger“

Professor Gerd Gigerenzer studierte in München Psychologie und ist seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er hat mehrere Bücher geschrieben.  Foto: dpa

Professor Gerd Gigerenzer studierte in München Psychologie und ist seit 1997 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er hat mehrere Bücher geschrieben. Foto: dpa

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Interview: Simone Humml, dpa

Das Bundeskanzleramt möchte drei Verhaltensexperten einstellen, um Strategien für eine wirksamere Regierungsarbeit zu entwickeln. Eines der Vorbilder für das Projekt könnte die sogenannte Nudge-Unit (Anstups-Einheit) der britischen Regierung sein, die Bürger im positiven Sinn beeinflussen soll.

Was bedeutet das Nudging für Sie?

Vertreter des Nudging glauben, dass menschliches Verhalten systematisch von rationalem Handeln abweicht und es angeblich auch wenig Hoffnung gibt, dass wir den Umgang mit Risiken lernen könnten. Also muss der Staat eingreifen, um uns vor uns selbst zu schützen, und zwar nicht durch Gesetze oder finanzielle Anreize, sondern indem er ähnliche psychologische Methoden verwendet wie Werbung und Industrie. Nudging ist eine Sammlung von Methoden, die eigentlich schon alle bekannt sind, die aber nun von einigen Forschergruppen in die Regierungen hineingetragen werden.

Können Sie ein Beispiele nennen?

In England hat das Behavioural Insights Team, auch Nudge-Unit genannt, versucht, Menschen zu beeinflussen, damit sie ihre Steuern bezahlen. Sie hat säumigen Zahlern die Information gesandt, dass 9 von je 10 Briten ihre Steuern rechtzeitig zahlen. Diese Methode scheint auch ein paar Prozent an Steuern zusätzlich zu bringen.

Gibt es ähnliche Projekte auch in Deutschland?

Auch hier wird die Bevölkerung bereits „genudged“. Beispielsweise sendet man Frauen zwischen 50 und 69 Einladungen zum Mammographie-Screening auf Brustkrebs, mit Angabe von Zeit und Ort. Frauen haben zwar die freie Entscheidung, aber sie werden gelenkt. Und zwar gelenkt, ohne dass man sie über Jahre hin wirklich offen über Chancen und Risiken der Früherkennung aufklärt hat. Die Aufklärung hat sich zwar mit der Zeit gebessert, aber nach unserer Studie überschätzen 98 Prozent der deutschen Frauen den Nutzen oder kennen ihn nicht. Viele glauben auch irrtümlich, dass sie, wenn sie zu dieser Untersuchung gehen, keinen Brustkrebs mehr bekommen können. Nudging macht Menschen nicht kompetent.

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