Wer soll sich da entscheiden?

Am Anfang des Films "Gladiator" streichelt Russell Crowe ein Feld von Binsen - ein Augenblick der Ruhe vor dem Sturm, man könnte sagen, der Glückseligkeit. Crowe weiß schließlich noch nichts von dem schlimmen Schicksal, das ihm bevorsteht: Entrechtung, Ermordung seiner Familie, Tod.

Bas Kast, studierter Psychologe und Journalist, ist seit Jahren damit beschäftigt, notorisch flüchtige Dinge wie Liebe und Intuition in den Gedankengriff zu kriegen. Jetzt hat er ein Buch über das Glück und die Schwierigkeit, sich zu entscheiden, geschrieben. Es ist ein bisschen wie "Gladiator", kommt allerdings über die erste Szene nicht hinaus. Kast flicht allerhand psychologische Studien in seinen Text. Und doch (oder gerade deshalb?) wogen, wo man hinsieht, die Binsen. Am Ende kommt er etwa zu dem Schluss: "Weniger ist manchmal mehr. Wahrer Genuss entsteht - wird jedenfalls stark gefördert - durch Knappheit."

Das hat er vorher kapitellang bewiesen. Zum Beispiel durch das Marmeladen-Experiment: Zwei Frauen laden im Supermarkt zum Probieren ein. Einmal bieten sie sechs Sorten an, einmal 24. Die Leute bleiben viel öfter am Tisch mit den 24 Marmeladen stehen, können sich aber anschließend nicht entscheiden und kaufen lieber nichts. Zudem sind sie unzufriedener.

Das Problem solchen Überangebots ist ein eher neues. Die Amerikaner schlagen sich damit schon ein wenig länger herum, inzwischen haben große Teile der Welt, darunter Deutschland, sie eingeholt. Mit dem wachsenden Angebot kann man Glückskurven korrelieren. Ergebnis: Seit den Fünfzigerjahren sind alle unglücklicher geworden, vor allem die Frauen. So lautet Kasts Kerndiagnose: "Es ist zwar so, dass unsere persönliche Freiheit und unser Wohlstand in den letzten Jahrzehnten nahezu stetig gestiegen sind, unsere Zufriedenheit jedoch ist im gleichen Zeitraum gesunken."

Mit Beispielen aus dem Freundeskreis bemüht sich der Autor, 1973 geboren, die Glücksabstinenz und Entscheidungsmuffeligkeit zum Generationensymptom zu stilisieren. In gewisser Weise ist sein Buch die Fortsetzung von Florian Illies' im Jahr 2000 erschienenen "Generation Golf", das - wie man plötzlich denkt - auch alle nur kauften, weil die Scout-Lamy-Nutella-Welt, die es schilderte, sich zu den vollends durchkapitalisierten Neunzigern verhielt wie ein idyllisches Ölgemälde zu den Geschwindigkeitscollagen der Futuristen. Dabei war "Generation Golf" natürlich erheblich cooler, weil es als Wegweiser durchs Warendickicht der Welt einfach andere, ältere Waren anbot. In seiner leicht unangenehmen Affirmation und wolkigen Nostalgie war ein anarchisch-kritisches Moment immer schon eingebaut. Deadpan heißt bei den Amerikanern der Humor, der gute Miene zum bösen Spiel macht. Wenn Illies wie einst Rousseau zurück zur Natur strebte - aber zu einer Natur dritter Ordnung, die nichts anderes war als eine bloß etwas bräsigere Technik -, wirkte er befreiend durch seine implizite Selbstpersiflage.

Solch lustige Subtilität geht Kast leider ab. Er preist die Kleinstadt als letzten Hort von Zwischenmenschlichkeit und empfiehlt am Ende allen Ernstes Slow Food und Handy-Abschalten. Beruhigend in der unverbindlich-verwirrenden Freiheitsfabrik unserer Gegenwart wirkt da höchstens die Langeweile der Thesen. Dabei hat er den Finger auf eine wirkliche Wunde gelegt. Nur sind seine Rezepte dagegen wenig mehr als lieb gemeinte Trostpflaster. Anders als Illies, der, indem er den Sperrmüll der Zeit nach Hause trug, den Platz schon wieder frei machte für neuen, will Kast sich den Möglichkeiten der Zukunft am liebsten für immer verschließen. Ein Kapitel überschreibt er so: "Erfolg ist, wenn man bekommt, was man will. Glück ist, wenn man will, was man bekommt."

Was so hübsch bescheiden klingt, ist nichts als eine dreiste Beschönigung des Status quo. Angesichts jeglicher Form von Ungerechtigkeit - ob in persönlichen Beziehungen oder in politischen Systemen - ist es purer Zynismus. Aber natürlich hat Kast keine Fibel für freiheitshungrige Syrer geschrieben, sondern eine für wohlstandsverwöhnte Wirtschaftswunderkinder. Seitenlang erzählt er vom selbstverliebten Möchtegern-Model Evelyn, der über ihren Individualismus-Eskapaden schließlich der "bodenständige, häusliche" Mark abhandenkam. Die Moral von der Geschicht': Mark ist längst wieder glücklich verliebt, Evelyn hingegen steht nachts heulend vor seiner Tür.

Vielleicht, denkt man, wäre mit Evelyn doch alles okay, wenn sie jetzt nur nicht zu flennen anfangen würde. Immerhin ist sie diesen Langweiler Mark los. Wie wäre es denn, wenn man nicht, wie Kast und seine Studien suggerieren, nur nach hinten fliehen könnte, zurück in die Kleinstadt, ins Häusliche und Bodenständige, in die Sechs-Marmeladen-Welt, am liebsten gleich in die DDR, sondern zur Abwechslung mal nach vorn?

Um es philosophischer zu formulieren: Aufklärung ist nach Kant ja der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Platon wollte in dieselbe Richtung, er ließ dafür die angeketteten Höhlenmenschen ans Erkenntnislicht krabbeln. Die Brüder Wachowski gaben Neo in der "Matrix" die rote Pille zu schlucken. Es war eine bittere. Platons Licht blendet. Und Kant zu lesen macht auch erst mal keinen Spaß.

Der Vorteil ist aber, dass man zumindest eine Chance hat, der säuberlich sortierten Spießerhölle zu entkommen, ästhetisch und intellektuell. Insofern ist das Problem von Kasts Buch der Standpunkt, von dem aus es spricht: aus der Mitte der Harmlosigkeit. Die Betulichkeit seiner Sätze, die Kuscheligkeit seiner Kapitel empfehlen es zwingend für die Sachbuch-Bestsellerliste, als buchgewordener Baldrian für die Nachttisch-Apotheke. Was aber, wenn das dauernd beschworene "Glück" bloß ist, was die Psychologie einem einreden will? Was, wenn man es nicht von vornherein absolut setzt, vor allem nicht als kleinsten gemeinsamen Nenner aus Freiheitsdrang und Schmusezwang?

In einem seiner schönsten Bücher, das ebenfalls vom Wunsch handelt, sein Leben zu verändern, zitiert Alain de Botton Proust: "Glück stärkt den Körper, doch nur Kummer fördert die Kräfte des Geistes." Botton erinnert uns daran, dass Erfahrungen dazu neigen, umso wertvoller zu sein, je schmerzhafter sie sind. Die meisten gültigen Aussagen über den Sinn des Lebens, schreibt Botton weiter, "stammen nicht von zufriedenen, kerngesunden Menschen, sondern sind Vorrecht und einziger Segen der Verdammten and Ausgestoßenen dieser Welt".

Ein großer Ausgestoßener, Luis Buñuel - das katholische Spanien ächtete ihn wegen seines sexualisierten Surrealismus, das faschistische wegen seines anarchistischen Witzes - hielt wenig von der Psychologie. Sie schien ihm ihn in eine Zwangsjacke stecken zu wollen, was er so formulierte: "Irgendwo zwischen dem Zufall und dem Geheimnis liegt die Vorstellungskraft, das Einzige, was unsere Freiheit bewahrt."

Wie wäre es also statt eines Plädoyers für Slow Food und Wanderurlaub mit einem für Mut und Schaffenskraft? Mit mehr statt weniger. Den einen mag mit Spießigkeit auf Rezept ja geholfen sein. Die anderen sollten sich auf dem Weg durch den Dschungel der Angebote hin zu einem selbstbestimmten Leben diesen Einheitsschuh aber lieber nicht anziehen. Man muss ja nicht gerade zu Russell Crowes Gladiator mutieren, dessen Weg zum Glück eine Einbahnstraße ist, an deren Ende der Tod steht, in den er seinen Widersacher mitnimmt. Aber dass er nicht auf halbem Weg zu weinen anfängt wie die freiheitsliebende Evelyn, die plötzlich Angst vor der eigenen Courage kriegt, das ist - in unserer Zeit nicht weniger als im Römischen Reich - vorbildlicher als jede psychologische Musterbiografie.

Bas Kast: "Ich weiß nicht, was ich wollen soll. Warum wir uns so schwer entscheiden können und wo das Glück zu finden ist". Fischer, 288 S., 18,99 Euro.

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