Weniger Demenzkranke als befürchtet – Tages

In der Schweiz soll sich die Zahl der heute 116'000 demenzkranken Menschen bis 2030 verdoppeln, bis 2050 gar verdreifachen. So rechnet es die Schweizerische Alzheimervereinigung auf ihrer Website vor, ausgehend von der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Ähnlich hoch ist der Anstieg, den die Organisation Alzheimer’s Disease International (ADI) im August vorhersagte. Weltweit sollen in 35 Jahren 130 Millionen Menschen an Demenz leiden, 2,8-mal mehr als heute. In westlichen Ländern wird mit einer Verdoppelung gerechnet.

Doch nun machen neue Studien Hoffnung. Die angekündigte «Demenzepidemie» könnte deutlich weniger stark ausfallen als befürchtet. Zu diesem Schluss kommen international führende Fachleute auf dem Gebiet Demenzepidemiologie, die unlängst gemeinsam einen Artikel im Fachblatt «Lancet Neurology» veröffentlicht haben. Darin analysieren sie fünf grosse epidemiologische Studien in Westeuropa der letzten Zeit, die alle auf das gleiche Resultat kommen: Die Zahl der Demenzkranken ist trotz der Alterung der Bevölkerung deutlich weniger gewachsen als bislang erwartet. Dies, weil in den betroffenen Altersgruppen die Häufigkeit neuer Fälle und damit auch der prozentuale Anteil von Demenz­kranken abgenommen hat.

Durchgeführt wurden die fünf Studien in Schweden (Stockholm und Göteborg), den Niederlanden (Rotterdam), Grossbritannien (England) sowie Spanien (Saragossa). Die Forscher verglichen die Häufigkeit der Demenz in der jeweiligen Region in einem Abstand von ein bis zwei Jahrzehnten und mit der gleichen Diagnosemethode. Beispielsweise bei der Studie in England sank der Anteil der über 65-Jährigen mit Demenz zwischen 1990 und 2011 um 22 Prozent. In Spanien kam es von 1987 bis 1990 nur bei den Männern zu einem Rückgang. Dieser betrug jedoch 43 Prozent.

Krankheitsbeginn verschoben

Weil die fünf Studien an verschiedenen Orten zum gleichen Schluss kommen, seien sie «besonders überzeugend», sagt Monique Breteler vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), eine der sieben Autorinnen und Autoren des «Lancet Neurology»-Papers. «Hinzu kommt, dass Studien in Nordamerika und Australien zu ähn­lichen Resultaten kommen.» Es zeige sich, dass nicht das Risiko für den Einzelnen gesunken ist, im Laufe des Lebens dement zu werden. Vielmehr scheine sich der Zeitpunkt der Erkrankung verschoben zu haben. «Die Menschen leben nicht nur länger, sie bekommen auch ihre Alterskrankheiten später», so Breteler.

Die neuen Befunde rütteln am gängigen Bild der Demenzerkrankungen als unvermeidbare Folge des Altwerdens. Bessere Lebensbedingungen und mehr Bildung schützen die Menschen vor dem fortschreitenden Hirnabbau, vermuten die Forscher. Eine wichtige Rolle scheint insbesondere die Senkung von Herz-Kreislauf-Risiken in den letzten Jahrzehnten zu spielen. «Was gut fürs Herz ist, ist auch gut fürs Gehirn», sagt Breteler. «Bereits eine kleine Senkung der Risiko­faktoren in der Bevölkerung kann einen grossen Effekt auf die Häufigkeit von Demenz haben.» Dabei gehe es um mehr als um Rauchstopp und Medikamente gegen Bluthochdruck oder schlechte Cholesterinwerte, betont die Epidemiologin.

Herz-Kreislauf-Faktoren beeinflussen Demenz

Interessanterweise zeigt sich, dass Herz-Kreislauf-Risiken sich nicht nur ausschliesslich auf die sogenannte vaskuläre Demenz auswirkt. Diese tritt bei Durchblutungsstörungen im Gehirn auf. Herz-Kreislauf-Faktoren beeinflussen auch alle anderen Arten von Demenz, also auch Alzheimer, die häufigste Form. Die Forscher gehen davon aus, dass ein besserer Allgemeinzustand generell die Widerstandskraft gegen einen Gehirn­abbau erhöht. Zudem beobachte man bei betroffenen Patienten meist verschiedene Formen von Demenz gleichzeitig, oft eben auch eine vaskuläre, so Breteler. Inwieweit auch Umwelt­einflüsse wie Feinstaubbelastung oder Ernährung bei der Demenzhäufigkeit eine Rolle spielen, ist noch offen.

Für Breteler ist klar: «Bei der Prävention von Demenz gibt es gigantisches Potenzial, das wir noch nutzen könnten.» Dazu brauche es mehr Forschung in dem Bereich. Mitautorin Carol Brayne von der britischen University of Cambridge fordert gar, dass Gesellschaft und Wissenschaft ihren Fokus vermehrt auf die Prävention legen und im Verhältnis zur «aktuellen Überbetonung von Diagnose und medikamentöser Therapie der Demenz» neu gewichten sollten.

«Änderungen sind in Gang»

Bei allem Optimismus angesichts der neuen Studien – manche Fachleute bleiben skeptisch. «Ich wäre vorsichtig mit Schlussfolgerungen in Anbetracht der vorhandenen Daten. Die Evidenz ist immer noch ziemlich schwach», sagt Martin Prince. Der angesehene Epidemiologe am King’s College London ist Hauptautor des ADI-Weltalzheimerberichts. Er empfiehlt politischen Entscheidungsträgern, weiterhin davon auszugehen, dass die Demenz parallel mit der Alterung der Bevölkerung zunimmt, solange die wissenschaftliche Faktenlage unklar ist.

Auch Carol Brayne und ihre Mitautoren sind der Ansicht, dass ihre Befunde noch weiter bestätigt werden müssen. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass sich auch der Weltalzheimerbericht im Fall von Westeuropa auf nur wenige, vergleichsweise alte Daten stütze. «Es sind Änderungen in Gang, das legen auch Resultate aus anderen westlichen Ländern nahe», insistiert Brayne. Für Afrika, Südamerika und Asien seien die düsteren Prognosen von der ADI jedoch unstrittig.

Betroffenenorganisationen und viele Forscher geraten durch die neuen Resultate in einen Konflikt. Sie befürchten, die eigentlich erfreulichen Resultate könnten falsch ausgelegt werden und die Politik zum Nichtstun ermutigen. Das wäre ein grosser Fehler, findet ­Monique Breteler: «Demenz wird eine grosse Herausforderung für die alternden Gesellschaften bleiben, auch wenn die Zahl der Betroffenen weniger stark zunehmen sollte als erwartet.» (Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 17.09.2015, 23:51 Uhr)

«Wir werden unsere Zahlen anschauen»

Birgitta Martensson, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung, ­reagiert zurückhaltend auf die neuen Demenzstudien.

Verschiedene Studien zeigen, dass die Zahl der Demenzkranken in westlichen Ländern stagniert. Freuen Sie sich?
Ich glaube, dass es dafür zu früh ist. Es gibt zwar Anzeichen für stabile Zahlen in Westeuropa. Angesehene Wissenschaftler wie Martin Prince vom King’s College London äussern jedoch grosse Zurückhaltung. Aufgrund der vorhandenen Daten lässt sich noch nicht sagen, was tatsächlich passiert. In Ländern mit mittlerem oder tiefem Einkommen ist zudem klar, dass eine massive Zunahme zu erwarten ist.

Doch für die Schweiz dürften die jüngsten Beobachtungen ­durchaus zutreffen.
Wie gesagt, ich würde vorsichtig sein. In der Schweiz gibt es leider keine einzige grosse Untersuchung zur Häufigkeit der Demenz. Solche Studien sind anspruchsvoll und aufwendig und wurden bei uns nie durchgeführt. Wir verwenden deshalb jeweils die Prävalenzraten aus vergleichbaren Ländern, umgerechnet auf die Bevölkerungszahlen des Bundesamts für Statistik.

Werden Sie nun die von Ihnen verwendeten Zahlen überprüfen?
Wir werden sie anschauen. Doch wahrscheinlich besteht keine Notwendigkeit für eine grössere Anpassung. Der Weltalzheimerbericht von Alzheimer’s Disease International vom August 2015 geht weltweit immer noch von einer Verdreifachung und in westlichen Ländern von einer Verdoppelung bis ins Jahr 2050 aus.

Die Anzeichen häufen sich, dass sich Demenz zu einem gewissen Grad vorbeugen lässt.
Präventive Massnahmen haben tat­sächlich eine Wirkung, das ist eine gute Nachricht. Dafür gibt es schon länger Hinweise. Ein gesundes Leben mit Bewegung, gesunder Ernährung und ohne Tabakkonsum sowie die Senkung der Herz-Kreislauf-Risiken wirken sich positiv aus. Darauf achtet man bei uns heute mehr als noch vor 20 oder 30 Jahren. Wohin das führt, ist noch eine offene Frage.
Interview: Felix Straumann (Tages-Anzeiger)

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