Weil wir so schön sind

Wer über die Schönheit spricht,darf über die Hässlichkeit nicht schweigen. Jedenfallswar dies ein Grundsatz jener Art von Literatur, die mittlerweile fast vergessen scheint: der Physiognomik. Sieht man von Vorläufern in der Antike ab – der Name Aristoteles wäre zu erwähnen –, so stehen an ihrem neuzeitlichen Anfang wie eingemeißelt die folgenden Zeilen:

„Je moralisch besser, desto schöner.“ – „Je moralisch schlimmer, desto hässlicher.“

Der Autor dieser beiden Sätze ist der einsthochberühmte Johann Kaspar Lavater, Sohn eines Züricher Arztes und Reformtheologe, dessen „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ in den Jahren 1775 bis 1778 erscheinen. Mit dem Vorsatz, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen zu demonstrieren,machte sich der Physiognomiker an die Arbeit, um derart ein Riesenwerk zu kreieren, dessen grundlegende Prämisse lautete: In derGestalt, vorzüglich im Antlitz eines Menschen, finden sich verlässlich Merkmale, die Rückschlüsse auf seinen Charakter zulassen.

Unter den Gebildeten war Lavater rasch als Fantast in Misskredit geraten. Doch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beanspruchte der Turiner Arzt und Anthropologe Cesare Lombroso, diephysiognomische Intuition ins messbar Wissenschaftliche zu überführen. Seine „positiveSchule“ der Kriminologie war prinzipiell antispekulativ orientiert. Nurempirisch fundierte Tatsachen durften gelten.Und was kam dabei heraus? Die Lehre vom Homo Delinquens, dessen Erbgut ihn, den „geborenen Verbrecher“, zum asozialen Handeln vorausbestimmte. Laut Lombroso sollte es fortan demFachmann möglich sein, diesen Menschentyp an einer Reihe körperlicher Stigmata zu erkennen, die ihrerseits einen physiognomischen Rückschluss auf bestimmte Charakterdefekte ermöglichten.

Und wenn es erst möglich war, den Verbrecher an äußeren Zeichen dingfest zu machen, dann müsste auf längere Sicht auch dasherkömmliche System der Bestrafung verschwinden. An dessen Stelle hätte der Maßnahmenvollzug auf unbestimmte Zeit und, als kühnste kriminalpolitische Initiative, die präventive Sicherungsverwahrung zu treten. Diese fordert die Aussonderung und Abschließung des Täters noch vor Begehung derUntat, von deren Heranreifen das Verbrechergesicht bereits Zeugnis ablegt.

Die soziale Bedeutung der Physiognomikentfaltet sich, trotz der schönrednerischen Beteuerungen von Lavater und anderen, zunächst im Feld des Hässlichen, auf der Ebenejener Merkmale, die den Betrachter abstoßen. Dabei hat uns die antisemitische Karikatur gelehrt, dass – um ein Wort des Großphysiognomikers Rudolf Kassner (1873–1959) zuvariieren –, wenn einer auch nicht gleich so abscheulich ausschaut, wie er es sollte, er es ganz bestimmt auf dem königlichen Umweg der Einbildungskraft seiner Todfeinde tut.

Natürlich spielt in der Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts die Schönheit ebenfalls ihre Rolle. Sie drängt allerdings weit weniger aus dem Bereich des kulturellen Überbaus hinaus. Auch wenn sie im Hintergrund eugenischer Fantasien rumort – immer wieder taucht, beginnend mit Platon, die Frage der Zuchtwahl schöner Menschen auf –, entzieht sie sich doch den aufs Handfeste drängenden Ordnungsideen, welche die Ausmerzung des Hässlichen, Kranken, Abartigen propagieren.

Bis zum Epochenbruch der Avantgarde gegen Ende des 19. Jahrhunderts bleibt in der Kunst die Schönheit das Zentralgestirn. Namentlich um die Schönheitder Frau hat sich ein Kult entfaltet und mit dem Kult eine mehr oder minder komplexe Zeichensprache, die auf die inneren Vorzüge schöner Weiblichkeit abzielt. Dennoch bleibtgerade hier der erste Teil der Gleichung Lavaters – „Je moralisch besser, desto schöner“ – eigentümlich blass, um nicht zu sagen: verblasen. Ja, es gibt die typisch weiblichen Tugenden, aber welche Merkmale der Frauengestalt entsprechen ihnen äußerlich?

Die Schönheit scheint für sich selbst zu sprechen. Und was sagt sie uns? Die typisch fraulichen Alltagstugenden sind die zum Mittelmäßigen hin verdünnten Ableitungen des Stereotyps „Hure oder Heilige“. Irgendwie sollten im schönen Gesicht jener Frau, die einMann heiraten möchte, Sittsamkeit, Hausfraulichkeit und Erotik ineinander spielen. Das war kein großes Demonstrationsfeld für den ambitionierten Physiognomiker.

Außerdem wurde eine Frau nicht primär wegen ihrer inneren Schönheit geheiratet, auch wenn ihr die äußere aufs Angenehmste entsprach, sondern vor allem wegen des ökonomischen Rückhalts, den ihre Familie bereitstellen konnte. Davon erzählen die Romane der Jane Austen bis zum Überdruss. Lauter „Liebesgeschichten und Heiratssachen“, um mit Johann Nestroy zu reden, der aus einer Malaise – Liebesgeschichten ohne Mitgift ergeben keine richtigen Heiratssachen – eine Wiener Posse machte.

Man kann wohl ohne allzu große Vereinfachung sagen, dass sich diese Situation in den europäischen Gesellschaften erst während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend ändert. Der allgemeine Wohlstand steigt, der Sozialstaat formiert sich, und die Stellung der Frau unterliegt einem tiefgreifenden Wandel. Von Selbstständigkeitund Gleichberechtigung ist nicht mehr bloß die Rede; dass die Frau dem Manne ebenbürtig sei, wird rechtlich festgeschrieben. Dadurch wird zugleich das alte physiognomische Feld neu strukturiert.

Die Schönheit – oder allgemeiner: die körperliche Attraktivität – wird jetzt bei Liebesangelegenheiten, und zwar auch bei jenen, die in eine Heiratssache münden, zu einem Leitwert, der neben, ja sogar über den ökonomischen Ressourcen steht. Das schafft auf längere Sicht einen neuen Markt, der neue Regeln der Attraktivitätskonkurrenz einschließt. Diese werden durch die Schönheitsindustrie, welche rasch zu einem mächtigen Wirtschaftsfaktor anwächst, wesentlich mitbestimmt.

Die Frage, wer oder was eigentlich schön sei, bekommt eine Dringlichkeit, die in der Geschichte komplexer Gesellschaften einmalig ist. Und es wird rasch klar, dass sich mit der Antwort des Physiognomikers klassischer Prägung nicht mehr viel anfangen lässt. Schönheit und Moral treten zusehends auseinander, obwohl sie untergründig, über die Charakterfrage, auf mehr oder minder diffuse Weise miteinander verbunden bleiben. Dieses Phänomen erleben wir derzeit in unserem Land an einem Beispiel, das einerNestroy-Posse würdig wäre, handelte es sich nicht zugleich um das Fanal eines moralischen Niedergangs im Bereich der Führungsschichten.

Ich rede von der Causa Karl-Heinz Grasser, des einst viel gerühmten Finanzministers der seinerzeit viel geschmähten Koalition der Bürgerlich-Konservativen mit der damals europaweit als rechtsextrem verschrienen Partei des Populisten Jörg Haider. Grasser ist – soweit heute bekannt – gewiss kein Leuchtturm der Tugend. Seit Jahren ermittelt die Justiz gegen ihn, während er, der Zwielichtige, nach Meinung selbst missgünstiger Kommentatoren immer schöner geworden ist, nicht zuletzt durch die Handanlegung seiner liebenden Gattin.

Es gehört zu den Besonderheiten unserer Zeit, dass einer, der unter vielfachem, teilweise schwerwiegendem Verdacht steht, dies umstandslos auf den Attraktivitätsneid derer, die ihn verdächtigen, zurückführt. Demnach gibt es so etwas wie eine Verschwörung der Unattraktiven. Am 30. Jänner 2011 verliest Grasser öffentlich, sans gêne,aus Anlass der ORF-Sendung „Im Zentrum“, quasi als schlüssiges Dokument seiner Entlastung, den Brief einer Verehrerin folgenden Inhalts: „Sie sind für diese abscheuliche Neidgesellschaft zu jung als Finanzminister gewesen, zu intelligent, zu gut ausgebildet, aus zu gutem, wohlhabendem Haus, zu schön, und was für alles der Punkt auf dem i ist: auch noch mit einer schönen und reichen Frau verheiratet.“

Neben den vielen Vorzügen, die das Leben des Karl-Heinz Grasser auszeichnen, sindes demnach vor allem seine eigene Schönheit und die Schönheit seiner Frau, welche die Jagdgesellschaft der Zukurzgekommenen mobilisieren. In dieser Rechtfertigungsfigur, deren brieflicher Ausdruck als lächerlichempfunden werden mag (und von den Medien dementsprechend kommentiert wurde), waltet dennoch eine typisch moderne Sicht der Schönheit als sozialer Ressource.

Die Schönheit wird vom schönen Angegriffenen selbst als Angriffsziel fantasiert, weil sie wesentlicher Teil eines Erfolgspaketes ist, dessen Kapitalien zu einem großen Teil nicht auf eigener Leistung beruhen. Schönheit – das scheint außer Zweifel zu stehen – erhöht heute die Karrierechancen auf eine ähnlich naturwüchsige und daher unverdiente Weise, wie früher der Adelstitel Rechte sicherte, hinter denen nichts weiter stand als die vornehme Abkunft.

Herausgefordert wird diese Fantasie dadurch, dass der physiognomische Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Schönheit nach dem Muster „Je moralisch besser, desto schöner“ längst als Wunschtraum und Ammenmärchen durchschaut wurde. Schönheit – so die aufgeklärte Perspektive – erhöht zwar die Chancen, um im Leben Erfolg zu haben; die Art und Weise indessen, wie der Erfolg errungen und mit ihm umgegangen wird, ob durch tugendhaftes Handeln oder unmoralisches Agieren, ist für den einigermaßen Gebildeten nicht mehr von individuellen Gesichtszügen und ihrer Konstellation abzulesen.

Um nun aber nicht am prominenten Beispiel hängen zu bleiben (für das, bis zum Beweis des Gegenteils, die Unschuldsvermutung gilt), sei die Betrachtungsebene verbreitert. Werfen wir einen Blick auf den sogenannten Beautycheck, wie er im Internet von einem Mitarbeiter der Universität Regensburg angeboten wird. Verantwortlich für die Entwicklung der weitläufigen Präsentation zeichnet Diplompsychologe Dr. Martin Gründl, ein – schenkt man seinem offiziellen Foto Glauben (und warum sollte man nicht?) – schöner Mensch, der seit 2006 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für experimentelle und angewandte Psychologie ist.

Der heutige Experimentator in Sachen Schönheit prüft nicht etwa, ob ein Mensch moralisch gut ist, um dann nachzuschauen, wie sich dieser Umstand in seinem Gesicht niederschlägt. Das wäre, nach den Regeln der empirischen Psychologie, ohnehin kein sinnvolles Forschungsprojekt. Stattdessen scheint jener Weg erfolgreich, der sich über das Modellieren von Gesichtern am Computer mithilfe einer „Morphing“-Software anbietet. Was geschieht dabei?

Beispielsweise werden realen Frauengesichtern prozentuell Anteile des sogenannten Kindchenschemas hinzugefügt, um anschließend durch Befragung Unbeteiligter den jeweiligen Attraktivitätsgewinn zu skalieren. Oder es werden die Gesichter realer Teilnehmerinnen an deutschen Schönheitsbewerben digital übereinandergelegt, unter Zugrundelegung bereits ermittelter Schönheitsparameter „vermorpht“, und es wird derart eine virtuelle Miss Germany erschaffen, die der wirklichen Miss Germany mühelos den Rang abläuft. Oder es werden aus einer Reihe realer Männergesichter jene herausgefiltert, die bei Befragungen als besonders „attraktiv“ und „sexy“ abschneiden, um darausdas ideale Männergesicht zu modellieren.

Die immer gleiche Pointe: Am Schluss erhält man Gesichter, welche, obwohl irreal, nichtsdestoweniger von einer Gruppe repräsentativer Testpersonen beiderlei Geschlechts in hohem Maße als „schöner“ oder „attraktiver“ bewertet werden, verglichen mit dem menschlichen Eingabematerial – den realen Ursprungsgesichtern – der „Vermorphung“. Und zu dieser Pointe gehört nun eine Art generalisierter physiognomischer Reaktion: Im Auge des Betrachters wird die im Computer erzeugte Schönheit eindeutig mit positiveren Charaktereigenschaften korreliert als der wirkliche Mensch, der als Ausgangsmaterial der Modellierung diente. Das liest sich auf der Beautycheck-Homepage folgendermaßen: „Haben attraktive Menschen Vorteile? Werden sie besser behandelt als weniger attraktive? Bekommen sie bessere Jobs? Wie wichtig ist es, auf einem Bewerbungsfoto gut auszusehen? Glaubt man bisherigen Untersuchungen, so muss man diese Fragen bejahen.“ Denn: „Es gibt ein ausgeprägtes Attraktivitätsstereotyp. Je attraktiver die präsentierten Gesichter waren, desto erfolgreicher, zufriedener, sympathischer, intelligenter, geselliger, zugänglicher, aufregender, kreativer und fleißiger wurden die Personen eingeschätzt. Für unattraktive Gesichter gilt das Gegenteil. Je unattraktiver, desto eher wurden negative Eigenschaften unterstellt.“

Resümierend wird festgestellt, dass wir unserer physiognomischen Illusion nicht entfliehen können: „Schöne Menschen haben einen dicken Bonus. Nicht nur bei einem Flirt, sondern in allen Situationen, in denen es auf den ersten Eindruck ankommt, genießen sie viele Vorteile. Und das nur, weil wir scheinbar so aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts auf einen simplen Fehlschluss hereinfallen: ,Was schön ist, ist auch gut.‘“

Damit wird gesagt, dass jemand, derschön ist, nicht auch gut zu sein braucht – eine Doktrin, die Lavaters Formel glatt unterläuft. Aber wussten wir im Grunde nicht schon immer, dass unsere Anschauung fehlgeht, sobald sie sich anschickt, im Stil der Physiognomik von Körpermerkmalen auf moralische Eigenschaften zuschließen? Handelt essich dabei nicht um eine schlichte Lehre des Alltags, eine Binsenweisheit des gesunden Menschenverstands? Das prinzipiell Neue, das sich in Unternehmungen wie dem „Beautycheck“ Bahn bricht, ist die unverhohlene Paarung aus wissenschaftlich fundiertem Realismus und Systemopportunismus.

Da die physiognomische Wertung stets spontan erfolgt und daher durch den Willen kaum beeinflussbar ist, wird deren Ursprung in der genetischen Situation des Menschen vermutet. Demnach wäre unser Gehirn neurologisch fix verdrahtet – „hardwired“ –, wennes um die Produktion jenes Phänomens geht,das der Diplompsychologe „einen simplen Fehlschluss“ nennt: „Je moralisch besser, desto schöner; je moralisch schlechter, desto hässlicher.“ Unser Hirn kann nicht anders, es muss gewissermaßen „lavatern“, also sich etwas zusammenreimen.

Sollten diese Ergebnisse – sowohl die empirischen Daten als auch die theoretischen Folgerungen – stimmen, dann sind sie zu akzeptieren. Was sonst? Und sie stimmen vermutlich, werden sie doch durch die Resultateder soziologischen Attraktivitätsforschung breitflächig gestützt. Diese besagen, dass schöne Menschen, ob in der Schule, der Liebe, am Arbeitsplatz oder vor Gericht, im Durchschnitt mit einer besseren, mehr zuvorkommenden Behandlung rechnen können. Man traut ihnen mehr zu, verdächtigt sie weniger, hilft ihnen notfalls lieber.

Der opportunistische Teil des Projekts beginnt dort, wo den negativ Betroffenen vom Psychologen nicht etwa empfohlen wird,auf den angeblich simplen Fehlschluss dadurch zu reagieren, dass man ihn als solchen ausweist und bekämpft. Eine solche Empfehlung könnte, in relativ kleinem Maßstab, darin bestehen, sich gegen die eingebürgerte Praxis zuwehren, Bewerbungsunterlagen ein Foto beizulegen. Tatsächlich gibt es in den USA und vereinzelt bereits auch beiuns die Forderung, eine Konvention des bildlosen Bewerbungsschreibens zu etablieren. –Die praktische Logik des „Beautychecks“ hingegen weist in die gegenteilige Richtung. Dem Einzelnen wird empfohlen, der unvermeidlichen Illusion zu entsprechen, soweit dies eben möglich sei. Es wird offen ausgesprochen: Wenn du Erfolg haben willst, dann optimiere deine Schönheit, deine äußere Attraktivität! Die ausgewiesene Kooperation des „Beautycheck“-Projekts mit dem Zentrum für Plastische Chirurgie des Regensburger Universitätsklinikums gibt einen deutlichen Fingerzeig: Der schönheitschirurgische Weg beginnt bei der Aufklärung darüber, woran es in puncto physiognomischer Anziehung mangelt, und endet bei der Erkenntnis, was alles am eigenen Gesicht geändert werden müsste, um im genetisch fixierten Kampf gegen die Attraktiven und Schönen zu bestehen.

Hinter dem Druck, die physiognomischen Ressourcen im Sinne des Fehlschlusses „Was schön ist, ist auch gut“ effektiv zu nützen, steckt, ob gewollt oder ungewollt, eine Aufforderung zur Diskriminierung aller, die aus den Ergebnissen der Schönheitsforschung keine praktischen Folgerungen zur Verbesserung des eigenen Äußeren ziehen, weil sie es nicht möchten oder können. Um diese Form der Diskriminierung kenntlich zumachen, wäre es hilfreich, sie sprachlich zu etikettieren. In Analogie zum Sexismus sollte das Lavater-Syndrom bis hin zur „Beautycheck“-Politik als Beautyismus an den Pranger gestellt werden.

Der – zugegeben scheußliche – Begriff„beautyism“ findet sich da und dort in der englischen Fachliteratur. Damit wird die Tendenz markiert, die sozialen Chancen von Personen ungerecht zu verteilen, indem, gedecktdurch einen hirnphysiologischen Schematismus und daher guten Gewissens, bei der Beurteilung eines Menschen von seinem äußeren Attraktivitätsgrad auf den Grad seiner inneren, charakterlichen Qualifikation geschlossen wird.

Kurz gesagt: Wir sollten einer Gesellschaftgegensteuern, in der die Schönsten zugleich als die charakterlich Besten gelten – es sei denn, wir würden Gefallen daran finden, eine Welt der Heidi Klums und Karl-Heinz Grassers für die beste aller möglichen zu halten. Auf dem Wege dahin sind wir ohnehin schon, wenn auch vorerst ohne weitreichenden Plan, nach Maßgabe individueller Empfindlichkeiten und ökonomischer Möglichkeiten.

Lassen wir – unter tatkräftiger Mithilfe derSchönheitslobby, ob in der Wissenschaft oderauf dem freien Markt – die Diskriminierungseffekte des Beautyismus ungehindert gedeihen, dann befördern wir eine neue Politik der sozialen Ungleichheit: eine, wie ich sagenmöchte, Beautykratie, die vor der quasi eugenischen Selektion des Erbguts, nach Maßgabedes in ihm schlummernden Schönheitspotenzials, nicht zurückschrecken wird. Ansätze dazu existieren bereits. Es gibt in den USA und anderswo die Samenbanken der Schönen und Erfolgreichen, es gibt die privaten Genlabors zwecks Screening der DNA...

Vor einer weiteren „Beautykratisierung“ unserer Gesellschaft kann uns, wenn überhaupt, nur ein illusionswiderständiger, realistischer Umgang mit den Ressourcen der Schönheit bewahren – ihrem wahren Zauber und ihren falschen Versprechungen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2012)

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