Was ist krank?

Psychologie Was ist krank?

Jörg Blech: "Die Psychofalle"

Von Ulfried Geuter


Eine verzweifelte junge Frau hockt auf einem Bett. Im Vordergrund: Tabletten. 

Die Zahl der Diagnosen psychischer Störungen nimmt zu. (picture-alliance/ dpa - Maxppp Bertrand Bechard)

Jörg Blech holt zu einem großen Schlag aus: Pharmakonzerne und Psychiater bilden eine "Seelenindustrie", die Befindlichkeitsstörungen und normale Besonderheiten zur Krankheit erklären. Pillen und Psychotherapie dienten heute einer Kosmetik für die Seele.

Von zwei Prozent auf 13 Prozent aller Erwachsenen: Das ist der Anstieg der Zahlen zur "sozialen Angststörung". Knapp 12 Prozent der Jungen im Alter zwischen neun und elf Jahren bekommen heute die Diagnose ADHS. Die bis in die 1990er-Jahre bei Kindern nahezu unbekannte "bipolare Störung" gehört in den USA zu den häufigsten Diagnosen in der Kinderpsychiatrie. Die Zahl der Arztbesuche mit dieser Diagnose hat sich binnen zehn Jahren um das 40-fache erhöht.

Das sind Zahlen aus dem Buch von Jörg Blech, Medizinjournalist der Zeitschrift "Spiegel". Er kritisiert einen Trend zur kosmetischen Pharmakologie, ähnlich dem Trend, durch Schönheitschirurgie den Körper einer Norm zu unterwerfen. Was zur menschlichen Natur gehöre wie Angst, Schüchternheit, Unruhe oder Stimmungsschwankungen, werde heutzutage als Krankheit angesehen. Und dagegen gibt es nicht nur zunehmend mehr Pillen, sondern auch Psychotherapie. In Kalifornien kann man in einer speziellen Shyness Clinic Schüchternheit durch Selbstsicherheitstrainings behandeln lassen. Damit keiner mehr schüchtern sein muss.

Dabei müsse es doch in der Evolution einen Vorteil gehabt haben, schüchtern, depressiv, schlecht gelaunt oder unruhig zu sein, meint Jörg Blech, sonst wären diese Gefühle ja wohl nicht so verbreitet. Zum Beispiel um sich wie ein scheues Reh aus einer Gefahrenzone herauszuziehen. Oder um zu grübeln, damit man für die Probleme eine Lösung findet, die einen depressiv machen. In der Psychiatrie aber gelte Grübeln als ein Symptom, gegen das es Antidepressiva gibt, die fünf Prozent aller Deutschen einnehmen.

Viel Übereifer in den Zeilen

Blech schreibt schwungvoll gegen die horrende Medikalisierung in Deutschland. Menschen über 65 erhalten im Schnitt über 7,3 verschiedene Wirkstoffe pro Tag. Die Zahl der Toten durch Arzneimittelfolgen liegt bei schätzungsweise 57.000 im Jahr, gegenüber 3.340 Verkehrstoten 2013. Bei Altersvergesslichkeit gibt es Pillen gegen Demenz, deren Wert nicht erwiesen ist. 6,5 Prozent aller Jungen nehmen Medikamente gegen ADHS, wer in seiner Schulklasse zu den jüngeren zählt, nimmt sie mehr als ältere. Denn die Probleme, meint Blech, werden den Menschen zugeschrieben. Einmal für krank erklärt, kann man sie behandeln. Zu diesem Zweck gibt es immer neue Diagnosen, z. B. das "Psychose-Risikosyndrom". Um es zu haben, bedarf es keiner Symptome.

Blechs Kritik ist eingängig, aber oft schreibt er mit Übereifer. Das macht ihn blind gegenüber seelischem Leid. So setzt er lang anhaltende, in der Jugend beginnende Depressionen, Dysthymie genannt, mit schlechter Laune gleich. Das Problem von Psychiatern, Krankheit anhand des subjektiven Befindens festzustellen, wischt er weg mit dem Argument, sie könnten keine objektiven biologischen Diagnosen stellen.

Auch bagatellisiert er die Arbeit von Psychotherapeuten. Dass die Zahl der Selbstmorde zurückgeht, wertet er nur als Indiz dafür, wie gut es einem gehe, aber nicht als Ausdruck einer immer besseren Behandlung von Depressiven. Diese Blindheit macht es schwer, sich mit dem Buch anzufreunden, auch wenn man seine Intentionen teilt.

 

Jörg Blech, Die Psychofalle. Wie die Seelenindustrie uns zu Patienten macht
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014
288 Seiten, 19,99 Euro

Leave a Reply