Warum Jens Lehmann ein Tyton-Fan ist

Das erste Bild der EM, das sich mir eingeprägt hat, war das des polnischen Ersatztorwarts Przemyslaw Tyton. Er drehte dem Griechen Karagounis den Rücken zu, kniete nieder und bekreuzigte sich. Als er sich umdrehte, wurde er mit seinem ersten Ballkontakt zum Helden dieser Europameisterschaft. Denn er hielt.

Höchste Emotionen in einem Bruchteil einer Sekunde. Die Psychologie eines Elfmeters mit allem, was dazugehört: die übertriebene Vorfreude des Gefoulten über den Elfmeter. Die Blicke des Schützen zum Schiedsrichter anstatt aufs Tor. Und das Gebet des Torwarts nach Eingebung.

Endlich wurde die EM eröffnet. Und zwar in höchstem Tempo, ganz der Philosophie des modernen Fußballs entsprechend. Die Eröffnungsfeier dauerte nur etwa 20 Minuten. Kurz und knapp, aber sehr unterhaltsam mit vielen Emotionen und großer Energie.

Ein unterhaltsamer erster Spieltag

Dann der furiose Auftakt der Polen, die die Griechen überrennen wollten, dann aber an ihrer Naivität und Unerfahrenheit auf internationalem Parkett scheiterten. Sie ließen sich von der Euphorie ihres Publikums anstecken und hatten keine Geduld, weder in der Abwehr noch im Angriff. Für die Atmosphäre der Europameisterschaft ist es wichtig, dass die Polen als Gastgeber möglichst lange im Turnier bleiben. Ich hoffe aus demselben Grund auf eine gute ukrainische Mannschaft. Als die Schweizer und Österreicher vor vier Jahren schon in der Vorrunde ausschieden, hat die Stimmung anschließend darunter gelitten.

Das Spiel der Russen gegen die Tschechen schloss nahtlos an die Unterhaltung des Eröffnungsspiels an. Ich habe die Russen dabei passsicher und schnell im Spiel nach vorne gesehen, die Tschechen als das genaue Gegenteil. In dieser Form müsste man die Russen zu den Favoriten zählen, wüsste man nicht, dass sie selbst nie so recht daran glauben und irgendwann während des Turniers wieder eine Schwäche zeigen.

Welche Mannschaften haben also wirklich das Zeug, uns den Titel streitig zu machen? Ich glaube, nur die wenigen, die schon einmal einen Titel gewonnen haben. Dazu kommt noch Portugal mit seinen überdurchschnittlichen Spielern und einer sehr verbesserten Organisation, die Trainer Bento ihnen beigebracht hat. Ich sehe in Ronaldo den Spieler, der dieses Turnier prägen kann, da er aus der Erfahrung gelernt hat, nur über den Erfolg der Mannschaft auch persönlich zu glänzen. Dazu hat er eine Physis, die ihresgleichen sucht und am Ende den Unterschied ausmachen kann.

Zu den anderen Teams, die ich meine, gehört Frankreich. Die Franzosen kommen mit dem bayrischen Topstar Franck Ribery. Er muss endlich zeigen, dass er in wichtigen Spielen die richtigen Entscheidungen trifft. Das ist es, was einen Weltklassespieler ausmacht. Um ihn herum gibt es noch einige sehr gute Spieler mit Benzema, Nasri und anderen. Dann Italien: Ich erinnere mich noch gut an die Italiener des Jahres 2006, als sie nach dem Korruptionsskandal zu uns kamen und sie deshalb niemand auf der Rechnung hatte. Italien ist immer dann stark, wenn sie sich vorher fast schon selbst zerstört haben, und ist sprichwörtlich immer eine Wette wert. Unabhängig von ihren Problemen sind die Italiener taktisch hervorragend organisiert und in diesem Punkt den anderen Mannschaften einen Tick voraus.

Bei den Engländern ist es seit Langem das erste Mal, dass die eigene Presse und die Mannschaft selbst sich nicht schon im Vorfeld als Gewinner sehen. Ich sehe nach wie vor die Qualität der Einzelspieler wie Terry, Cole, Walcott oder Carrick. Trotz ihrer zahlreichen Ausfälle sind sie eine gute Mannschaft, bei der man nie weiß, was herauskommt.

Ob Holland es schaffen wird, nicht nur schön, sondern auch effektiv zu spielen? Wenn sie ihre Abwehr verstärken können, die bei der 0:3-Niederlage gegen Deutschland so langsam war wie ein holländischer Wohnwagen auf der Autobahn, sehe ich sie ebenfalls weit vorne. Sie haben halt mit die spielstärkste Offensive.

Keine optimale Vorbereitung für Deutschland

Unser neuer Angstgegner, die Spanier, sind für mich jedoch nach wie vor das Maß aller Dinge. Selbst das Europa-League-Endspiel hat gezeigt, was für tolle Spieler die Spanier in der zweiten Reihe bei Bilbao und Atletico Madrid haben. Dazu noch die taktisch bestens aufeinander abgestimmten Stars von Barcelona und Madrid. Ich denke, dass die Krise in ihrem Land sie zusätzlich motiviert. Sie sind sich bewusst, in dieser schwierigen Zeit noch mehr Vorbild für ihre Landsleute zu sein als sonst schon.

Und wir? Respekt einflößend sind wir als Turniermannschaft nach wie vor. Außerdem wissen alle, dass wir inzwischen technisch sehr guten Fußball spielen können. Die Jungs müssen abgezockt sein und mentale Stärke zeigen, erst das macht sie zu Gewinnern. Der Druck muss permanent aufrechterhalten werden. Vor vier Jahren waren schon viele zufrieden damit, dass wir das Endspiel erreicht haben. Das ist zu wenig, der Druck muss größer sein für einen Titel.

Leider war die Vorbereitungszeit nicht optimal. Die Bayern-Spieler sind viel zu spät ins Trainingslager gekommen. Allerdings ist Joachim Löw einer der erfahrendsten Trainer bei diesem Turnier. Ein Fachmann darin, die richtigen Spieler zu einer Mannschaft zu formen. Wer es schafft, in dieser schweren Vorrundengruppe mit Holland, Portugal, Dänemark und Deutschland weiterzukommen, hat in meinen Augen beste Chancen, auch das Endspiel zu erreichen.

Jens Lehmann mit seiner Frau Cornelia
© DAPD
Der ehemalige Weltklassetorwart Jens Lehmann und seine Frau Cornelia

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