Traumatisierte Bundeswehrsoldaten: Psychologen warnen vor hoher Dunkelziffer

Deutsche Soldaten scheinen die militärischen Auslandseinsätze der Bundeswehr vergleichsweise gut wegzustecken. Während US-Truppen bei den posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) Raten von 9 bis 20 Prozent aufweisen und britische Einheiten etwa auf 4 Prozent kommen, entwickelten lediglich 2,9 Prozent der in Afghanistan stationierten deutschen Soldaten eine behandlungsbedürftige PTBS. Das hat die aktuelle Auswertung eines Teams um Hans-Ulrich Wittchen und Sabine Schönfeld vom Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Dresden ergeben. Seit sich die Bundeswehr an militärischen Auslandseinsätzen beteiligt, war seit den frühen neunziger Jahren bereits über eine Viertelmillion deutscher Soldaten teils mehrfach in Afghanistan und auf dem Balkan eingesetzt.

Die Frage, die sich die Dresdner Wissenschaftler eigentlich stellten, war: Wie hoch ist die Dunkelziffer - also die Zahl der Soldaten, deren PTBS nicht erkannt und nicht behandelt wird? Im Jahr 2010 wurden 1483 Heimkehrer aus allen Waffengattungen zeitgleich von erfahrenen Psychologen befragt. Ein Viertel kam aus kämpfenden Einheiten, die anderen waren im Sanitätsdienst oder bei Versorgungsverbänden. "Bezogen auf 10.000 Soldaten, die jedes Jahr auf einen durchschnittlich viermonatigen Isaf-Auslandseinsatz gehen, leiden 291 Soldaten in den zwölf Monaten nach dem Beginn des Einsatzes unter einer PTBS, darunter 89 Soldaten, die neu erkranken", fasst Psychologe Wittchen das Ergebnis zusammen.

Nur jeder zweite Soldat mit Problemen sucht professionelle Hilfe

Wie die Analysen der Dresdner Forscher zeigen, sucht aber nur knapp jeder zweite Soldat mit einer PTBS professionelle Hilfe. "Das lässt den indirekten Schluss auf eine nennenswerte Dunkelziffer von 45 Prozent zu", sagt Wittchen. Bezogen auf den Afghanistan-Einsatz im Jahr 2009 bedeute das, dass sich unter den damals rund 15.000 eingesetzten deutschen Isaf-Soldaten 150 unentdeckte PTBS-Fälle befinden müssten. Daneben gebe es aber noch andere einsatzbedingte psychische Störungen, deren tatsächliches Ausmaß "um ein Mehrfaches höher" liege als die PTBS-Häufigkeit, so Wittchen.

Das ist kein Wunder angesichts des Erlebten: So gaben 29,6 Prozent der Befragten an, Leichen oder Leichenteile gesehen zu haben. 32 Prozent waren mit verletzten und kranken Frauen oder Kindern konfrontiert, ohne ihnen helfen zu können.

Doch obwohl die Lage vor allem in Afghanistan in den letzten Jahren bedrohlicher geworden ist, wirkt sich das nicht unbedingt auf die Psyche aus. Wie eine aktuelle Studie der Bundeswehrkrankenhäuser Berlin und Hamburg sowie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein belegt, suchten von Januar 2010 bis Juni 2011 insgesamt 615 Soldaten erstmals Hilfe wegen ihrer Probleme, darunter nicht nur PTBS, sondern auch Anpassungsstörungen und leichte bis mittlere Depressionen.

Zur Überraschung der Ärzte "stieg die Zahl der Kosovo-Rückkehrer mit psychischen Beschwerden in unserer Stichprobe stärker als die der Soldaten nach einem Afghanistan-Einsatz", betont das Team um Jens T. Kowalski vom Psychotraumazentrum der Bundeswehr in Berlin. Zudem würden Frauen eher Hilfe in Anspruch nehmen als Männer. Wer sich keine Illusionen darüber macht, was auf ihn zukommt, der könne mit gefährlicheren Missionen offenbar besser umgehen, erklären sich die Experten den Befund.

Die Zahl der wegen PTBS behandelten Soldaten steigt seit Jahren an

Insgesamt haben die Soldaten allerdings immer mehr mit ihren Erlebnissen zu kämpfen: Wurden 2008 noch 255 PTBS-Behandlungen registriert, waren es 2009 bereits 455 und ein Jahr später 729. 2011 zählte die Bundeswehr insgesamt 922 Therapien. Unter den psychischen Belastungen leiden freilich nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch deren Angehörige. Die Auswirkungen auf das Zivilleben erfasst die Bundeswehr allerdings nicht.

Auch außerhalb der Armee gibt es Risikogruppen für PTBS: Lokführer zum Beispiel, Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte, aber auch die Opfer von Naturkatastrophen, häuslicher Gewalt oder von Vergewaltigungen. In lebensgefährlichen Situationen wird der Körper mit Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin überschwemmt. Das stört die Gedächtnisfunktionen des Hippocampus, der dafür zuständigen Hirnregion. Die Folge: Ein kleiner Auslöser, ein Geruch etwa, genügt, um die Szenen immer wieder hochzuspülen. Da nur eine Minderheit PTBS entwickelt - in Deutschland sind es geschätzte zwei bis drei Prozent - und Frauen ein höheres Risiko tragen als Männer, wird derzeit über eine genetische Anfälligkeit diskutiert.

"Ganz wichtig ist der Umgang mit den Betroffenen nach dem Trauma", erklärt Günter H. Seidler, Leiter der Sektion Psychotraumatologie an der Universitätsklinik Heidelberg. "Sie müssen als Opfer wahrgenommen werden und man muss ihnen bestätigen, dass sie etwas Furchtbares mitgemacht haben." Mit herkömmlichen tiefenpsychologischen Verfahren und Psychoanalyse sei wenig auszurichten, bekräftigt Günter H. Seidler: "Während einer traumatischen Situation speichert das Gehirn getrennt ab, was gehört, gesehen oder gerochen wurde. Außerdem werden die Informationen nicht mit Sprache verknüpft."

Bei der Behandlung setzt zum Beispiel das Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) auf Verhaltenstherapie und die intensive Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis, außerdem auf Entspannungstechniken, den Umgang mit Ärger und Schuld und neue Lebensperspektiven. "Wir erzielen damit gute Erfolge", sagt Herta Flor, wissenschaftliche Direktorin am ZI. Zudem wird dort daran geforscht, Verhaltenstherapie mit Medikamenten zu kombinieren.

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