Thema Tod in der Schule – Für Kinder soll der Tod kein Tabu sein

Das Bild ist noch so klar wie vor vierzig Jahren: ein hübsches Mädchengesicht, klein und blass. Regine hieß die Mitschülerin in der zweiten Klasse. Immer öfter kam es vor, dass sie mitten im Unterricht sagte: „Ich hab solche Kopfschmerzen.“ Bald darauf kam Regine ins Krankenhaus. Hirntumor. Niemand wusste, was das ist. Kein Lehrer erklärte es. Und eines Morgens hieß es, Regine komme nicht mehr wieder. Das Wort „gestorben“ stand in der Luft – hart und unbegreiflich. Noch Jahre danach sahen die Kinder Regines Mutter in Schwarz auf der Straße. Niemand wusste, wie man sich ihr gegenüber verhalten sollte. Man hatte so etwas nicht gelernt.

Der Tod ist ein Tabu

In den vier Jahrzehnten seitdem hat sich nicht viel geändert. Der Tod ist ein Tabu. Kaum jemand will Kinder mit ihm konfrontieren. Obwohl sie ihm täglich in den Medien begegnen. Obwohl sie nicht selten erleben, wie von einem Tag auf den anderen neben ihnen Menschen fehlen. Sie bleiben meist mit ihren Ängsten und Gedanken allein.

„Es erscheint unglaubhaft und ist doch wahr: Eine der zentralsten menschlichen Fragen hat in Lehrplänen und -büchern nur eine schwache Spur hinterlassen“, schreibt Peter Brokemper, Lehrer und Autor von „Tod – ein Projektbuch“, das sich an Schulen richtet.

Peter Brokemper: Tod – ein Projektbuch. Hintergründe – Perspektiven – Denkanstöße. Verlag an der Ruhr. Mülheim 2012. 111 Seiten. 21,80 Euro.

Das Buch ist gedacht für 14- bis 19-Jährige Schüler. Es ist reich an Bildern, Interviews, Zitaten, Geschichten, Gedichten und Übersichten. Es beantwortet Fragen, unter anderem: Wie stirbt ein Mensch? Glauben alle Religionen an
ein Leben nach dem Tod? Was ist ein
Jugendhospiz?
Verschiedene Sichtweisen werden angeboten: Wie gehen die unterschiedlichen Kulturen mit dem Tod um? Ist aktive Sterbehilfe Mord oder letzter Dienst am Sterbenden? Das Buch gibt auch eine Reihe von Denkanstößen: Warum sind Krimis und Halloweenpartys so beliebt? Ist Selbsttötung Ausdruck menschlicher Freiheit? Darf man beim Leichenschmaus lachen?

Für den Deutschunterricht könnten sich folgende Texte eignen: „Und was kommt dann? Das Kinderbuch vom Tod“ von Pernilla Stalfelt, das Märchen „Die Boten des Todes“ von den Brüdern Grimm oder das Gedicht „Definition“ von Erich Fried.

„Die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod gehört in die Lehrpläne der Schulen“, hat der Deutsche Kinderhospizverein vor wenigen Tagen in einer Erklärung gefordert. Der Verein, 1990 von Familien mit schwerstkranken und sterbenden Kindern gegründet, betreibt bundesweit 19 ambulante Kinderhospize.

Dass die Forderung gerade jetzt so deutlich kommt, hat unter anderem mit einer sich wandelnden Haltung der Bevölkerung zu tun. So veröffentlichte der Deutsche Hospiz- und Palliativverband erst im August die Ergebnisse einer Befragung von 1 044 Deutschen ab 18 Jahren. 58 Prozent meinten, dass sich die Gesellschaft mit dem Thema Sterben und Tod zu wenig befasse. Sie wünschten sich eine intensivere Auseinandersetzung.

Sollte diese auch schon die Kinder mit einbeziehen? Darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. „Kinder sollen doch angst- und sorgenfrei aufwachsen. Es ist bestimmt nicht gut für sie, über Sterben und Tod zu sprechen“, sagen manche Eltern, wenn einzelne Schulen damit beginnen, diesem durchaus schwierigen Thema mehr Raum zu geben. Zum Beispiel in Projektwochen „Hospiz macht Schule“, die von der Hospizbewegung angeboten werden. Darin befassen sich bereits Grundschüler in verschiedenen Formen mit den Themen Werden und Vergehen, Krankheit und Leid, Sterben und Tod, Traurig-Sein, Trost und Trösten.

Möglichst sachliche Informationen

„Immer dort, wo wir Kindern die Möglichkeit eröffnen, Fragen zu stellen, tun sie das. Sie haben einen großen Wissensbedarf“, sagt Margret Hartkopf, deren Tochter vor zwei Jahren an einer Stoffwechselerkrankung gestorben ist. Hartkopf engagiert sich im Vorstand des Kinderhospizvereins, wurde dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. „Es wäre einfach schön, wenn die Kinder schon in der Schule lernen, sich mit dem Thema Sterben und Tod auseinanderzusetzen, Fragen stellen und sich Meinungen bilden können“, sagt sie.

Dabei gehe es vor allem um sachliche Information. „Das Sterben, der Tod, die Beerdigung – alles, was damit zusammenhängt, ist ja weggerutscht aus der Natürlichkeit des Lebens und der Familie.“ Wenn Hospizmitarbeiter oder Notärzte Vorträge an Schulen halten, hören sie Fragen, wie: Warum ist Blut rot? Warum fallen einem bei der Chemo die Haare aus? Was passiert beim Sterben? Wie sieht ein Toter aus? Was kommt danach?

Die Psychologie unterstützt die Idee möglichst sachlicher Information, auch um überbordenden Fantasien und Ängsten entgegenzuwirken. Die Entwicklung durchläuft bei Kindern verschiedene Stadien. Im Alter von bis zu fünf Jahren stellen sie sich den Tod als eine Art temporäre Abwesenheit vor. Man sollte ihn nicht als Schlaf darstellen – „die Oma ist eingeschlafen“ –, damit sie in der Folge nicht Schlaf mit Tod assoziieren und Angst vor dem Einschlafen entwickeln.

Im Alter zwischen sechs und neun Jahren wird der Tod häufig personifiziert: als eine Art schwarzer Mann, der einen entführt – und dem man entkommen kann. Zwischen neun und elf Jahren entwickeln Kinder bereits ein „erwachsenes Todeskonzept“, und zwar mit der Einsicht, dass der Tod irreversibel ist, dass er jeden betrifft, biologische Ursachen hat und mit ihm alle Körperfunktionen stillstehen.

Schulen sind kaum vorbereitet

Auf jeden Fall sollte man Kinder – wenn sie nicht ausdrücklich widersprechen – nicht vom Geschehen fernhalten, sagen Psychologen. Das könnte angstvolle Fantasien fördern, dass hinter den Kulissen etwas ganz Unheimliches stattfindet. Man sollte sie einbeziehen: bei Besuchen Todkranker oder bei Beerdigungen.

Die Forderung, das Thema auch in der Schule in den Mittelpunkt zu stellen, hat zugleich etwas mit der aktuellen Wandlung dieser Schule selbst zu tun. Behinderte und kranke Kinder sollen künftig gleichberechtigt in Klassen normaler Regelschulen lernen. Das Stichwort lautet: Inklusion.

Bisher sind 90 Prozent der Kinder, die von Hospizdiensten begleitet werden, in Förderschulen untergebracht. Nur zehn Prozent – darunter Kinder, die an Krebs oder Muskelschwund erkrankt sind – besuchen eine Regelschule. In den nächsten Jahren sollen es mehr werden. Wenn es nur noch eine Schule für alle Kinder gebe, dann wachse die Wahrscheinlichkeit, dass in der Klasse ein todkrankes Kind sei, sagt Hartkopf. Die Schulen sind kaum darauf vorbereitet. Dabei wäre es auch für die betroffenen Kinder wichtig, dass an Schulen ein normales Verständnis entwickelt wird.

Der Kinderhospizverein bietet Fortbildungsseminare für Lehrer an. Damit erreicht er im Jahr vielleicht bundesweit 120 Pädagogen. Für mehr gibt es keine Kapazitäten. Schon gar nicht für eine flächendeckende Aus- und Fortbildung. „Dafür müssen Konzepte entwickelt werden“, fordert Hartkopf. „Aber die Länder haben kein Geld, und der Bund ist nicht zuständig.“ Das meiste, was auf diesem Gebiet passiert, hängt von engagierten Ehrenamtlichen und einzelnen Institutionen ab.

Kultusminister haben bisher nicht reagiert

Für den Lehrer und Autor Peter Brokemper erscheint der Tod auf einer Landkarte des Unterrichts „wenn nicht als weißer Fleck, so doch als eine vornehmlich von Religions- und Philosophielehrern aufgesuchte Grauzone“. Alte Ängste, moderne Tabus und die Schwierigkeit, geeignetes Material zu finden, verhinderten häufig die Auseinandersetzung.

Dabei findet man für die Fächer Religion, Ethik oder Philosophie durchaus interessante Ansätze. „Die Endlichkeit des Lebens“ für den Ethik-Unterricht der 9. und 10. Klassen in Sachsen-Anhalt etwa ist ein gut durchdachtes Angebot. Es vermittelt Informationen über Sterbephasen, Trauermodelle, Bestattungsformen. Es regt Schüler zum Denken an. Eine Aufgabe heißt: „Stell dir vor, es gäbe einen Jungbrunnen. Wie würde sich unser Leben durch die Aussicht verändern, sich jederzeit verjüngen zu können und nicht sterben zu müssen?“

Doch für jene, die in der Hospizarbeit täglich mit dem Sterben zu tun haben, steht das Thema noch zu sehr am Rande des Schulalltags. „Erst wenn es in den Lehrplänen der einzelnen Bundesländer verankert ist, gibt es eine Regel dazu, wie viele Stunden es in welchen Fächern unterrichtet werden muss“, sagt Margret Hartkopf. Ansonsten falle es hinten runter. Sterben und Tod gehörten genauso in den Unterricht wie Sexualität oder Gleichberechtigung.

Die Kultusminister haben auf die Forderung bisher nicht reagiert. Der Kinderhospizverein will nun direkt auf die Kultusministerkonferenz (KMK) zugehen. Viel Hoffnung, dass sich grundsätzlich etwas bewegt, scheint es aber nicht zu geben. Zu straff und zu voll sind die Lehrpläne.

"Ich lebe jetzt bewusster"

Dabei wäre es auch eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, das Thema Sterben und Tod mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Schließlich gibt es eine Debatte, mit der sich jeder auseinandersetzen muss – ob es um aktive Sterbehilfe, Patientenverfügungen oder Organverpflanzungen geht.

Über den Tod nachzudenken, heißt auch, leben zu lernen. Was es bewirken kann, wenn sich die Schule intensiv mit dem Thema beschäftigt, zeigen die Aussagen von 14- bis 19-jährigen Gymnasiasten: „Es fällt mir jetzt leichter, über das Thema zu reden. Außerdem hat der Tod nun ein Gesicht für mich“ – „Der Tod ist nicht mehr so weit entfernt“ – „Ich lebe jetzt bewusster. Ich habe gelernt, wie kostbar das Leben doch ist und dass man die Zeit mit anderen nutzen sollte.“

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