Tamiflu umsonst gehortet – Tages

Einst hochgelobt und jetzt doch kaum besser als ein Fieberzäpfchen: Tamiflu verkürzt im Vergleich zu Placebos die durchschnittliche Dauer von Grippesymptomen gerade mal um einen halben Tag, auf 6,3 statt 7 Tage. Weitere angeführte Wirkungen lassen sich nicht belegen. Zu diesem Schluss kommt die bislang umfassendste Analyse vorhandener Studien, die heute im Fachblatt «British Medical Journal» veröffentlicht wurde. Die neue Publikation könnte der Schlussstrich unter einen lang andauernden Streit zwischen Forschern und dem Tamiflu-Hersteller Roche
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sein.

Seit das Medikament 1999 auf den Markt gebracht wurde, hat die Firma rund 13,5 Milliarden Franken durch den Verkauf eingenommen. Rund die Hälfte des Geldes stammt von Regierungen und Unternehmen rund um den Globus, die das Medikament als Vorbereitung auf eine Pandemie eingelagert haben, ohne es je einzusetzen.

Verfasser der nun veröffentlichten Meta-Analyse ist die renommierte Cochrane Collaboration, ein weltweites Netz von Fachleuten, die mit systematischen Übersichtsarbeiten die Wirksamkeit von medizinischen Therapien bewerten. Unter der Federführung von Tom Jefferson kämpften die Cochrane-Gutachter während viereinhalb Jahren, um an alle relevanten Daten zu Tamiflu zu kommen. Weil nur ein Teil der durchgeführten Studien veröffentlicht war, forderten sie im Jahr 2009 bei Roche die vollständigen Unterlagen zu sämtlichen Studien an. Dabei stiessen Jefferson und seine Kollegen jedoch auf Widerstand. Sie veröffentlichten in der Folge eine Übersichtsarbeit zu den ihnen zur Verfügung stehenden Studien, die bereits auf eine nur bescheidene Wirksamkeit von Tamiflu deutete. Erst danach versprach Roche, die vollständigen Berichte «in Kürze» zur Verfügung zu stellen.

Boykottaufruf gegen Hersteller

Es war jedoch ein leeres Versprechen. Das Unternehmen blockierte die Herausgabe der Daten weiterhin mit immer neuen Begründungen. Dies veranlasste das «British Medical Journal» Ende 2012, eine Kampagne zu starten und mit offenen Briefen Roche zum Einlenken zu bewegen. Von Cochrane wurde gar zum Boykott und zu Gerichtsklagen gegen ­Roche aufgerufen.

Nun hat das Pharmaunternehmen doch geliefert. «Ohne Bedingungen», wie Tom Jefferson gegenüber dem «Tages-Anzeiger» versichert. Die Forscher hätten alle angeforderten Daten erhalten, doch zeige sich nun, dass immer noch verschiedene Unterlagen fehlen würden, sagt Jefferson. Vom anderen Hersteller von antiviralen Grippemedikamenten, GlaxoSmithKline, haben die Cochrane-Forscher ebenfalls Daten erhalten. Das Unternehmen sei im Gegensatz zu Roche sehr kooperativ gewesen.

Die aktuelle Cochrane-Analyse umfasst interne Reporte mit insgesamt über 24 000 Personen von 20 Studien zu Tamiflu (Wirkstoff Oseltamivir) von Roche sowie 26 Studien zum weniger verbreiteten Grippemittel Relenza (Zanamivir) von GlaxoSmithKline. Die Studien haben die Gutachter aus einer grösseren Zahl von Daten nach definierten Qualitätskriterien ausgewählt.

Fast keine der ursprünglich angegebenen Wirkungen konnten die Cochrane-Fachleute bestätigen. So existierten keine brauchbaren Belege dafür, dass Tamiflu die Zahl von Spitaleinlieferungen und Komplikationen bei Grippeerkrankungen verringern könne, heisst es in einer Mitteilung des «British Medical Journal». Unbewiesen sei auch die Behauptung, wonach eine präventive Behandlung mit Tamiflu verhindern könne, dass sich jemand mit dem Influenzavirus ansteckt und es weiterverbreitet.

Auf der anderen Seite fanden die Forscher ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, psychiatrische Störungen sowie Nierenprobleme. Es gebe zudem Hinweise darauf, dass Tamiflu bei gewissen Personen verhindert habe, dass sie genügend eigene Antikörper gegen ihre Influenzainfektion bildeten.

Daten zurückgehalten?

Laut den Cochrane-Autoren haben die Firmen die Behörden weltweit ursprünglich mit unvollständigen Informationen versorgt. «Es sieht so aus, als ob Roche gewisse Daten zu unerwünschten Wirkungen zurückbehalten und den Nutzen seines Medikaments überverkauft hätte», sagt Mitautor Mark Jones von der australischen Universität Queensland. Wenn die Daten früher veröffentlicht worden wären, hätten Ärzte und Patienten besser über mögliche Risiken und Nutzen Bescheid gewusst. «Das hätte möglicherweise zu viel weniger Nebenwirkungen geführt, wie sie heute zu Tausenden gemeldet werden, Todesfälle eingeschlossen.» Dass die Cochrane-Analyse Klagen nach sich ziehen wird, ist nicht auszuschliessen.

Mit vollständigen Informationen wären wahrscheinlich auch die Länder zurückhaltender gewesen, als sie aus Angst vor der Schweinegrippe im Jahr 2009 ihre Tamiflu-Vorräte anlegten. Das «British Medical Journal» und die Cochrane Collaboration rufen die Regierungen nun dazu auf, ihre Empfehlungen zu ­Tamiflu und Relenza zu hinterfragen.

In der Schweiz geht man die Sache ­allerdings langsam an. «Für unsere Pandemieplanung hat die neue Cochrane-Analyse keine unmittelbaren Konsequenzen», sagt Daniel Koch, Leiter Abteilung Übertragbare Krankheiten beim Bundesamt für Gesundheit. Man werde die Fachdiskussion weltweit abwarten. Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Schweiz als Herstellerland gut gefahren. Die Kosten für das Pflichtlager für 25 Prozent der Bevölkerung trägt Roche. Die ebenfalls vorhandene Notreserve mit rund 50'000 Tabletten von 2009 wird künftig nicht weitergeführt.

Swissmedic sieht sogar gar «keinen unmittelbaren Handlungsbedarf», so Mediensprecher Lukas Jaggi. Dies, obwohl das Heilmittelinstitut die Wirksamkeit von Tamiflu viel höher einschätzt, als dies die Cochrane-Analyse nun tut. Warum Swissmedic überhaupt zu so unterschiedlichen Einschätzungen kommt, beantwortet das Heilmittelinstitut nicht.

Gar nichts ändern will Tamiflu-Hersteller Roche. Man halte die Cochrane-Gutachter für «unerfahren im Umgang mit grossen Datenmengen» und anerkenne sie «nicht als Instanz zur Beurteilung des Nutzens» von Tamiflu und ähnlichen Medikamenten.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 10.04.2014, 00:04 Uhr)

Aufstieg und Fall eines vermeintlichen Wundermittels

Was wurde über Tamiflu nicht alles geschrieben: Anfänglich war oft von einem Wundermittel die Rede, Ärzte sprachen von einer neuen Waffe im Kampf gegen die Grippe. Das Mittel aus dem Hause Roche hat – mit Ausnahme von Viagra – wohl wie kein anderes für so viele Schlagzeilen gesorgt.

Ein Blick zurück zeigt, dass das Grippemedikament bereits seit seiner ersten Zulassung 1999 umstritten ist. So monierten Ärzte, dass Tamiflu nur wirke, wenn es in den ersten zwei Tagen nach Krankheitsbeginn eingenommen werde.

Für Aufregung sorgte die aggressive Marketingkampagne, mit der Roche die Lancierung des Medikaments begleitete. Der Pharmakonzern wollte der Bevölkerung nahebringen, bei den ersten Anzeichen einer Grippe sofort zum Arzt zu ­gehen und sich Tamiflu verschreiben zu lassen. Schon bald musste Roche damit aufhören, da die Inserate die für Medikamente geltenden Werbestimmungen verletzt hatten. Gleichzeitig warnte die US-Gesundheitsbehörde FDA vor der übermässigen Verschreibung des Mittels, weil schwer erkrankte Personen mit Tamiflu statt mit Antibiotika behandelt wurden. Die Folge waren Todesfälle, die hätten vermieden werden können.

Dass Zweifel am Nutzen schon von Anfang bestanden haben, zeigt die Tatsache, dass Tamiflu bis auf eine kurze Ausnahme von den Krankenkassen nicht erstattet werden musste. Während Swissmedic über die Zulassung eines Medikaments befindet, entscheidet das Bundesamt für Gesundheit über den Preis und die Rückerstattungspflicht der Krankenkassen.

Vogelgrippe brachte Erfolg

In den ersten Jahren brachte Tamiflu dem Basler Pharmakonzern kaum Geld ein. Dies änderte sich rasch, als Ende 2003 erstmals das Vogelgrippevirus in Hongkong entdeckt wurde. Die Furcht vor einer Pandemie beförderte den ­Ladenhüter zu einem Kassenschlager. Über 50 Länder deckten sich auf Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorsorglich mit dem Grippemittel ein. Selbst einzelne Bürger legten zu Hause einen Notvorrat an. Aufgrund der Hamsterkäufe waren Apotheken zeitweise gar mit einem Lieferengpass konfrontiert.

Der Druck auf Roche, Tamiflu in möglichst hohen Mengen zu möglichst tiefen Preisen zu liefern, ist in der Folge weltweit gestiegen. Im Vergleich zu 2003 erhöhte der Pharmakonzern die Kapazitäten bis Mitte 2006 um das Acht- bis Zehnfache. Zu dieser Zeit beschlossen die USA, mehr als 4 Milliarden Dollar in die Pandemievorsorge zu investieren. Ein Teil des Geldes wurde für ein Tamiflu-Lager eingesetzt. Gleichzeitig begannen auch Firmen Vorräte für ihre Mitarbeiter aufzubauen, falls die Vogelgrippe mit voller Wucht zuschlagen sollte. 2006 erreichte der Umsatz des Mittels einen vorläufigen Höhepunkt.

In dieses Jahr fällt auch die erste Studie der Cochrane Collaboration. Das internationale Forschernetzwerk zog die Wirksamkeit des Medikaments in Zweifel, was Roche entzürnte. Zudem mehrten sich in den folgenden Jahren ­Meldungen, wonach Tamiflu bei immer mehr Virenstämmen versagte. Im Jahr 2008 zeigten sich in den USA 98 Prozent der H1N1-Viren resistent gegen das Grippemittel. Ärzte sprachen von einem ­Todesurteil.

Es kam anders. Die Schweinegrippe, erstmals 2009 in Mexiko aufgetaucht, katapultierte den Umsatz des Medikaments ein Jahr später auf einen Rekordwert. Die Zahl der anfänglich beobachteten Todesfälle und die rasche Aus­breitung liess schlimme Befürchtungen aufkommen. Nur wenige Monate nach dem Ausbruch erklärte die WHO die Schweinegrippe zur Pandemie. Die Geschichte wiederholte sich, Regierungen, Unternehmen und Private füllten ihre Lager und Notvorräte von Neuem. Allein in der Schweiz orderten Bund und Kantone wegen der Vogelgrippe und der Schweinegrippe insgesamt 150 000 Packungen und gaben ­dafür 4 Millionen Franken aus.

Eine gute Beruhigungspille

Trotz der weltweit 18'000 Todesfälle trafen die noch weit schlimmeren Befürchtungen der WHO nicht ein. So schnell sich die Aufregung in der Bevölkerung wieder legte, so markant sank der Tamiflu-Umsatz.

Dennoch erwirtschaftete Roche selbst in den Jahren nach dem Schweinegrippe-Hype respektable Umsätze. Die wiederholt geäusserte Kritik der Forscher der Cochrane Collaboration an der Wirksamkeit Tamiflus prallte ab. Dies hat auch damit zu tun, dass die Behörden bis heute kaum Alternativen zur Hand haben. Bis ein Grippeimpfstoff bereitsteht, verstreichen Monate. Damit sei Tamiflu wohl das erste Medikament in der Geschichte in der modernen Medizin, das nicht wegen seines Nutzens, sondern als Beruhigungspille für die Bevölkerung zum Kassenschlager avancierte, schrieb der «Beobachter». Und dies gleich zweimal. (Andreas Möckli)

(Tages-Anzeiger)

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