Stumme Signale aus einer Zwischenwelt – Tages

Wird er wieder wach? Das fragen sich seit Monaten viele Menschen, welche die Krankengeschichte des beim Skifahren verunglückten Autorennfahrers Michael Schumacher verfolgen. Eine grosse Öffentlichkeit erfährt so zumindest in­direkt, wie lange das Warten auf kleinste Fortschritte dauern kann und dass es im Fall schwerer Hirnverletzungen oft nur vage Prognosen gibt. Diese Unsicherheit erfahren die Angehörigen und die Ärzte Tausender Komapatienten regelmässig.

«Im Einzelfall lassen sich immer nur der aktuelle Zustand und der Verlauf bewerten», sagt Margret Hund-Georgiadis, Neurologin und Chefärztin am Zentrum für Querschnittsgelähmte und Hirnverletzte (Rehab) in Basel. Die Spezialisten prüfen Reflexe und Reizantworten, untersuchen Augenbewegungen und beurteilen vegetative Funktionen wie den Pulsanstieg, um herauszufinden, wie gut das Gehirn noch mit der Umwelt interagiert – und vor allem: ob sich diese Merkmale im Laufe der Wochen verbessern.

«Diese standardisierten Kriterien sind in der Regel zuverlässig», meint Hund-Georgiadis. Insbesondere die günstigen Fälle würden in den ersten sechs Monaten gut überprüfbare Fortschritte zeigen. Die Ärztin ist gleichwohl überzeugt, dass Routineuntersuchungen nicht jedem Patienten gerecht werden. «Wir wissen mittlerweile, dass es Formen von Bewusstsein und Reaktionsfähigkeit gibt, die sich klinisch nicht unbedingt zeigen.» Bei solchen Fällen könne eine Regenerationsfähigkeit leicht übersehen werden, sagt sie.

Viele Diagnosen sind falsch

Der bekannte belgische Komaforscher Steven Laureys von der Universität Lüttich schätzt das Problem als gravierend ein: «Etwa ein Drittel der Diagnosen tiefer Bewusstseinsstörung sind falsch, wie wir an unserer Klientel sehen.» Seit gut zehn Jahren forscht der Neurologe bereits daran, vor allem jenen Zustand, bei dem der Betroffene definitionsgemäss wach, aber ohne Wahrnehmung und Bewusstsein sein soll, besser einzuschätzen und folglich die Regenerationsfähigkeit geschädigten Hirngewebes genauer vorherzusagen. Mit einer neuen Studie scheint er diesem Ziel nähergekommen zu sein. Unter 42 Patienten machte er mit besonderen Hirnaufnahmen immerhin 9 aus, die entgegen der klinischen Beurteilung Restbewusstseinsaktivität zeigten und sich in den folgenden zwölf Monaten tatsächlich noch verbesserten, wie er in der Fachzeitschrift «Lancet» berichtet.

Das Wachkoma – auch vegetativer Zustand oder apallisches Syndrom genannt – entwickelt sich üblicherweise nach einigen Wochen aus einem Schlafkoma. Der Betroffene erwacht, zeigt aber keine Anzeichen von Bewusstsein, reagiert allenfalls reflexhaft auf Aussenreize. Zu dieser Konstellation kommt es, wenn tiefer gelegene Hirnstrukturen wie Hirnstamm oder Hypothalamus zwar erhalten, grosse Bereiche der Hirnrinde und ihre Verbindungen hingegen zerstört sind. Den daraus resultierenden Ausfall von Hirnfunktionen verdeutlicht auch die Hirnstromkurve (EEG): Anders als bei wachen Gesunden zeigt sie bei Personen im Wachkoma eine stark verlangsamte Hirnaktivität.

Doch es gibt Unterschiede. Neue Untersuchungsmethoden, welche die Komaforscher anwenden, haben dazu beigetragen, dass Übergangsstadien des Bewusstseins genauer differenziert werden. Der sogenannte minimale Bewusstseinszustand (MCS) ist so eine Zwischenwelt. Die Diagnose MCS stellen die Fachleute, wenn der Patient zumindest zeitweise Anzeichen bewussten Denkens zeigt und gerichtete Reaktionen auf seine Umwelt bietet. Doch eben dieses Kennzeichen wechselnder Symptome führe leicht zu Fehldiagnosen, sagt Steven Laureys. Vor vier Jahren schon machte der belgische Arzt in einem spektakulären Experiment darauf aufmerksam. Er instruierte gut 50 vermeintlich Tiefkomatöse, sich vorzustellen, Tennis zu spielen. Während der Aufgabe erfasste ein Kernspintomograf die Stoffwechselaktivität der Patientengehirne. In vier Fällen trat jedes Mal ein charakteristisches Aktivitätsmuster auf, was auf eine geistige Reaktion schliessen liess.

«Nicht zu schnell aufgeben»

«Welcher Bewusstseinsqualität solche Reaktionen entsprechen, wissen wir nicht», relativiert Margret Hund-Georgiadis derartige Befunde. Sie betont aber dennoch deren Bedeutung: «Wir sehen daran, dass manche Patienten stärker in Interaktion treten können, als es nach aussen den Anschein hat.» Das biete einen Ansatz zur Rehabilitation, der ohne dieses Wissen nicht genutzt werde. Die Neurologin plädiert deshalb dafür, solche Untersuchungen zu standardisieren und in Zukunft bei unklaren Fällen routinemässig einzusetzen. «Man sollte dadurch keine Wunder erwarten. Die Patienten bleiben in der Regel schwer behindert. Man darf sie aber auch nicht zu schnell aufgeben.»

Welche Verfahren für einen Rest­bewusstseins-Check brauchbar sind, hat Steven Laureys in seiner aktuellen Studie überprüft. 126 Patienten mit unterschiedlich schweren Bewusstseinsstörungen untersuchte er klinisch-neurologisch. Er verwendete zwei Methoden: funktionelle Kernspintomografie (FMRI) und Positronenemissionstomografie (PET). Das PET-Verfahren macht ebenfalls die Stoffwechselaktivität der Hirnbereiche sichtbar, allerdings nicht wie die FMRI anhand des gemessenen Blutflusses, sondern mithilfe radioaktiv markierten Zuckers, welcher von aktiven Nervenzellen aufgenommen wird.

Versteckte Hirnaktivität

Die so nachweisbare Hirnaktivität lässt offenbar gute Rückschlüsse auf den Bewusstseinszustand zu: Mithilfe der PET konnten Laureys und sein Team die Diagnose eines minimalen Bewusstseins­zustands (MCS) zu 93 Prozent korrekt stellen, während das mit der FMRI nur in 45 Prozent der Fälle gelang. Bei 13 von 42 Patienten, die klinisch als bewusst- und reaktionslos eingestuft worden waren, zeigte PET Hirnaktivität. 9 von ihnen besserten sich im folgenden Jahr tatsächlich. «Die Methode zeigt uns, dass wir das Bewusstsein differenzierter beurteilen und dementsprechend Rehabilitation und Schmerztherapie besser anpassen müssen», resümiert Laureys.

Gegen den breiten, routinemässigen Einsatz der PET spricht, dass das Verfahren teuer und aufwendig ist. Die erforderlichen Anlagen stehen üblicherweise nur grossen nuklearmedizinischen Abteilungen, etwa an Universitätskliniken, zur Verfügung.

Verschiedene Forschungsgruppen – so auch Margret Hund-Georgiadis und ihr Team – arbeiten daher daran, mit speziellen Hirnstromuntersuchungen geistiges Potenzial in reaktionslosen Patienten ausfindig zu machen. Beim sogenannten Oddball-Paradigma erhält der Komatöse verschiedene Tonreize, während seine Hirnströme aufgezeichnet werden. Kommt es beim Tonwechsel auch zu einer Änderung der Hirnaktivität, spricht das für eine versteckte Form von Wahrnehmung.

Wenn der Befund negativ ist

«Bis zur Praxisreife muss die Methode noch weiter untersucht und verfeinert werden», sagt Hund-Georgiadis. Neben offenen neuropsychologischen und technischen Fragen müssten in Zukunft aber auch ethische Probleme dringend geklärt werden, so die Ärztin: «Wenn ich Behandlungspotenzial in einigen Fällen feststelle, was bedeutet das dann für all die anderen, bei denen so ein Nachweis negativ ausfällt?» Aus dem neuen Wissen würde sich also ein altes Dilemma der Medizinethik aktualisieren: Wer fragt, kriegt eine Antwort.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 29.04.2014, 02:44 Uhr)

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