Streit um Diagnosen – Was ist krank und was ist normal? – Kölner Stadt

Was ist krank - und was noch gesund oder normal? Erst Mitte Mai wird das neue Psychiatrie-Handbuch aus den USA zu haben sein, doch der Streit darum schwelt schon seit Jahren. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) will den Leitfaden für seelische Leiden (DSM-5) bei ihrer Jahrestagung offiziell veröffentlichen. Hunderte Experten, darunter auch einige Deutsche, haben mehr als ein Jahrzehnt daran mitgearbeitet und die Einteilung von Depressionen, Angst oder Schizophrenie auf den Prüfstand gestellt. Zuerst erschien das DSM im Jahr 1952.

Kritiker wie der US-Psychiater Allen Frances mahnen, dass nun neue Diagnosen ohne ausreichende wissenschaftlichen Belege und unzureichende Praxistests eingeführt werden. Der emeritierte Professor hatte die Arbeit am Vorgänger DSM-IV (1994) maßgeblich mitverantwortet. Seither hat es seiner Ansicht nach „drei neue falsche Epidemien“ bei Kindern gegeben: Autismus, Aufmerksamkeitsdefizitstörungen und bipolare Störungen. „Jeder fünfte erwachsene US-Bürger nimmt mindestens ein Medikament wegen eines psychiatrischen Leidens ein“, schreibt Frances in seinem Buch „Normal - Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“.

Keine unmittelbaren Auswirkungen

Manche Erkrankung taucht im DSM-5 neu auf, etwa die „affektive Dysregulation“ für kleine Kinder, die regelmäßig mit Verhaltensausbrüchen auffallen. Unter „minorer neurokognitiver Störung“ wird die nachlassende Gedächtnisleistung im Alter als Krankheit erfasst. Das Asperger-Syndrom hingegen - eine Form von Autismus - wird im neuen Handbuch anders einsortiert. Doch was bedeutet dies nun für deutsche Patienten?

„Für Deutschland wird die Veröffentlichung des DSM-5 im Mai keine unmittelbaren Auswirkungen haben, weil Ärzte und Psychologen nach dem Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation, dem ICD-10, abrechnen“, sagt der Hamburger Professor Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Doch auch das ICD-10 werde gerade überarbeitet und es sei nicht auszuschließen, dass Diagnosen nach dem Vorbild der USA in den ICD-11 übernommen werden. „Diese Entwicklung müssen wir sorgfältig verfolgen, gerade wenn es darum geht, eine für Deutschland gültige Fassung zu erstellen.“ Das DSM ist vor allem auch als Grundlage für die Forschung anerkannt.

Zahl der Diagnosen nicht erhöhen

Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) plädiert in einer Stellungnahme dafür, „die Zahl der Diagnosen nicht durch neue, leichtere Störungen - für die es zumal keine Therapien gibt - zu erhöhen“. Der Vorstand äußert die Sorge, dass dies zu einer „Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft“ führen könnte und außerdem „zu einer Vernachlässigung der medizinischen Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten“.

Die DGPPN fügt jedoch hinzu, das Manual enthalte auch notwendige Anpassungen im Diagnosesystem, die „nicht grundsätzlich abgelehnt werden sollten“. Und die Gesellschaft begrüßt, dass einige Beschwerdebilder nicht in das DSM-5 aufgenommen wurden. Dazu zählt unter anderem das Burnout-Syndrom.

Diagnosen oft vorschnell gestellt

Kritiker Frances schreibt, dass in den USA inzwischen 80 Prozent aller Psychopharmaka von Allgemeinmedizinern verschrieben und Diagnosen oft vorschnell gestellt würden. In Deutschland gestalten sich die Verschreibungszahlen etwas anders: „Je nachdem welche Zahlen man zugrunde legt und welche Psychopharmaka man mit einbezieht, werden etwa ein Drittel bis etwas mehr als die Hälfte dieser Medikamente von Hausärzten verschrieben“, sagt Prof. Wilhelm-Bernhard Niebling, Allgemeinmediziner und Vorstandsmitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft.

Etwa 50.000 Hausärzte stünden rund 6000 klassischen Nervenärzten und Psychiatern gegenüber. „Wir setzen vom System her voraus, dass Hausärzte beispielsweise Depressionen erkennen und sich in der Versorgung einbringen müssen.“ Und so schwingt bei der Debatte um DSM-5 auch die Frage mit, wer eigentlich psychisch Kranke behandeln sollte.

Eine neue DSM-Diagnose werden die Fachgesellschaften besonders im Auge behalten: Demnach kann eine mehr als zwei Wochen anhaltende Trauer schon der Krankheit Depression zugeordnet werden, was mit einer Behandlung - inklusive Antidepressiva - einhergehen könnte. Laut Arzneiverordnungsreport 2012 hat sich die Zahl der verschriebenen „definierten Tagesdosen“ an Antidepressiva in Deutschland in den zehn Jahren zuvor bereits mehr als verdoppelt. Auch Frances kritisiert diese Neuerung scharf. Sein Appell am Ende seines Buches: „Die Normalität ist jeden Rettungsversuch wert. So wie die Psychiatrie.“ (dpa)

1. Was genau ist eine Depression?

Jedenfalls nicht „das Traurigsein, das Bedrücktsein, das wir aus dem Alltag kennen“, sagt Prof. Ulrich Hegerl. Und auch nicht die Melancholie oder Herbstdepression. Der Mediziner von der Universität Leipzig beschreibt die Krankheit vielmehr als „hässlichen, kalten Zustand“, verbunden mit dem Gefühl, dass „die Luft raus“ ist. Dazu zeigt er das Bild eines aufblasbaren Plastikkrokodils, das schlaff am Boden liegt. (Bild: dpa)


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