Strategie: Dialektisches Wohlbefinden

5. November 2015

Nicht nur positive psychische Vorgänge, wie Optimismus, Selbstbewusstsein oder Freude, tragen zum Wohlbefinden bei. Auch Ärger oder Pessimismus können zu mehr Lebenszufriedenheit führen, weil sie zum Handeln anregen. Diese dialektische Sicht des Glücksstrebens haben jetzt Londoner Forscher zusammengefasst.

Tim Lomas und Itai Ivtzan von der University of East London legen in der Online-First-Ausgabe des Journal of Happiness Studies den Erkenntnisstand der zweiten Welle der sogenannten Positiven Psychologie dar. Die Positive Psychologie bildete sich als Forschungsrichtung in den 1990er Jahren heraus mit dem Ziel, neben psychischen Störungen auch das zu untersuchen, was Menschen stärkt. Dabei wurden Optimismus, Selbstbewusstsein, Freude und das angenehme Leben untersucht.

Die zweite Welle dieser Forschung hat in den letzten Jahren gezeigt, dass Wohlbefinden dialektisch zu sehen ist. Neben positiven Gefühlen sind es auch negative Seelenzustände, wie Ärger oder Niedergeschlagenheit, die ihre guten Seiten haben. Sie korrigieren vielfach den Blick durch die rosarote Brille und tragen im Endeffekt dazu bei, dass Krisen überwunden werden. Dadurch fühlt man sich mittelfristig wohler. Die Autoren verweisen auf folgende Ergebnisse:

1. Strategischer Pessimismus beruhigt. Optimistisches Denken gilt als Eckpfeiler dafür, dass man sich wohlfühlt. Doch Längsschnittstudien haben gezeigt, dass Optimisten früher sterben als Pessimisten, wohl weil sie Risiken unterschätzen. Ein strategischer Pessimismus, der keine grundlegende Haltung, sondern eine lösungsorientierte Herangehensweise ist, kann daher auch beruhigen. Beispiel NASA: Dort spielen Astronauten endlos Bad-News-Szenarios durch. Dadurch sind sie trotz zweifelnder Einstellung gegen Probleme gewappnet, fühlen sich kompetent und sicher.

2. Selbstlosigkeit macht aufmerksamer. Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl schützt nachweislich vor einem unsteten Leben, vor Kriminalität und Arbeitslosigkeit. Selbstlosigkeit, die zwar nicht das Gegenteil von Selbstbewusstsein ist, aber damit zusammenhängt, kann auch glücklich machen. Eine demütige Sicht auf die Welt, die nicht im Egoismus verharrt, führt dazu, dass man aufmerksamer wird. Selbstlose Menschen erkennen häufiger, dass auch vermeintlich unbedeutende Dinge schön sind, und kümmern sich mehr um andere. Das lässt sie fröhlicher werden.

3. Wer sich beschränkt, wird zufriedener. Größtmögliche Freiheit wird landläufig als Voraussetzung für glücksverheißende Entscheidungen angesehen. Dabei hat sich in vielen Studien gezeigt, dass Menschen unzufriedener werden, je mehr Wahlmöglichkeiten sie haben. Die Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von „Freiheitsexzess“. Die Erfahrungen von Mönchen zeigen hingegen, dass Selbstbeschränkung und Routinen helfen, diese täglichen tausendfachen Entscheidungen um das richtige Essen, die schönste Mode, den liebenswürdigsten Partner auszusetzen. Dadurch muss man zwar kurzfristig seine bettelnden inneren Stimmen aushalten. Aber schon nach einer halben Stunde wird man ruhiger.

4. Sich ärgern hilft, Ungerechtigkeiten zu überwinden. Studien haben gezeigt, dass es für Opfer heilsam ist, ihren Peinigern zu vergeben. Wenn Menschen aber immer noch in diesen Missbrauchsbeziehungen leben, hält sie Vergebung darin gefangen. Hier wäre Ärger das Gefühl, durch das sie sich schneller trennen könnten. Ärger ist also nicht per se negativ, sondern rüttelt auf, man handelt. Er gibt dafür Energie, Ungerechtigkeiten anzugehen. Damit ist nicht gesagt, dass man andere hassen oder gewalttätig sein muss. „Gegen Unterdrückung kann man auch kämpfen, wenn man mitfühlend ist“, wie die Autoren betonen.

5. Glück nicht erzwingen, auch mal traurig sein. Erlebtes Glück ist wohl der Kern, wenn es um ein besseres Leben geht. Aber die Autoren warnen vor dieser Glücksfokussierung. Untersuchungen haben erbracht, dass die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit größer wird, je stärker das Ziel ist, glücklich zu werden. Wenn genau das nicht klappt, ist man am Ende eher deprimierter. Außerdem ist es häufig unangemessen, auf Glücksgefühlen zu beharren. Wenn es einem Freund schlecht geht oder man selbst schwere Zeiten durchmacht, ist Traurigkeit das angebrachte Gefühl. Dann sollte man nicht zwanghaft versuchen, glücklich zu sein, sondern seine Gefühle wahrnehmen und überlegen, welche kleinen Schritte als nächstes möglich sind.

6. Selbst nach Traumata kann man aufblühen. Mehrere Untersuchungen aus den letzten Jahren kamen zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit jener, die durch Krankheit, Kriegserfahrung oder Naturkatastrophe traumatisiert wurden, innerlich wachsen, ja „aufblühen“ konnten. Sie wurden danach reifer, kreativer, spiritueller, berichteten über neue Beziehungen zu anderen und darüber, dass sich ihre Lebensphilosophie und ihre Prioritäten geändert hatten. Natürlich gaben nicht alle diese umfassende Transformation zu Protokoll. Aber „die meisten“, so die Autoren, konnten wenigstens in einem Bereich diese positiven Veränderungen feststellen, trotz oder wegen des durchgemachten Unglücks.

7. Liebe und Angst gehören zusammen. Schließlich weisen Lomas und Ivtzan darauf hin, dass selbst die Liebe durch etwas Negatives bedingt wird: Angst. Wer liebt, gibt sich dem anderen hin und riskiert, dass er verletzt wird. Die Angst vor dieser Verletzung ist gleichsam die Bedingung, da es ohne sie keine uneingeschränkte Liebe wäre.

© Wirtschaftspsychologie aktuell, 2015. Alle Rechte vorbehalten.

Weiterführende Informationen:

Tim Lomas Itai Ivtzan (Department of Psychology, University of East London). (2015). Second Wave Positive Psychology: Exploring the Positive–Negative Dialectics of Wellbeing [Abstract]. Journal of Happiness Studies, Online First Articles.

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