So wird der Stress in der Schule erträglich

Schlaflose Nächte, Panikattacken, Versagensängste: Seit der Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge leiden immer mehr Studenten unter dem großen Leistungspensum, das Universitäten in vielen Studiengängen verlangen. Doch längst sind nicht mehr nur Studenten vom ständig wachsenden Leistungsdruck betroffen.

Bereits in der Schule beobachten Schulpsychologen mit wachsender Sorge eine Entwicklung, die der an unseren Universitäten gar nicht so unähnlich ist. Mit dem Abitur nach zwölf Jahren und dem immer früher einsetzenden Fremdsprachenunterricht wird schon den Kleinsten mehr abverlangt als jemals zuvor. Leistungsdruck gehört für viele Schüler genauso zum Alltag wie das tägliche Pausenbrot.

Laut des LBS Kinderbarometers 2011, welches jährlich vom PROSOZ Institut für Sozialforschung erhoben wird, hat jedes sechste Kind in der Schule ein "negatives Wohlbefinden". Die Schule liegt damit im Vergleich zu anderen Lebensbereichen wie etwa Familie, Freunde oder Wohnumgebung an letzter Stelle.

Hoher Druck auf Individualität

Denkbar schlechte Grundvoraussetzungen, wenn man bedenkt, dass Kinder und Jugendliche einen Großteil des Tages in der Schule verbringen. Doch liegt das wirklich nur an den steigenden Anforderungen?

"Es herrscht heute ein hoher Druck, sich möglichst individuell darzustellen. In den Medien wird suggeriert, dass jeder ein Zuckerberg werden kann, wenn er nur die richtige Idee hat", sagt Stefan Drewes vom Berufsverband Deutscher Psychologen. "Wer nichts Besonderes vorweisen kann, fühlt sich schnell als Versager."

Nie war es so leicht wie heute, der Welt sein Können zu präsentieren. Videoclips auf YouTube prasseln am Fließband auf die Generation Internet ein. Hier jagt scheinbar ein Talent das nächste und lässt die Zukunftsängste um einen Job steigen – allerdings oftmals nicht bei den Kindern, sondern bei den Erwachsenen.

Ein Strudel aus Erwartungshaltung

"Häufig liegt es an den hohen Erwartungen der Eltern, dass Kinder in der Schule unter Leistungsdruck stehen", sagt Drewes. Besonders der Trend Richtung Gymnasium sorge dafür, dass bereits in der dritten und vierten Klasse durch das Elternhaus Druck aufgebaut wird.

Noten werden zum Instrument, an dem das Kind gemessen wird. "Manche Kinder haben bei mir schon Tränen in den Augen, wenn sie eine "3" schreiben und erzählen mir, dass sie dafür zu Hause Ärger kriegen", sagt Wolfgang Waldeyer, Schulleiter der Justus-von-Liebig Grundschule in Berlin.

Wenn die schlechten Noten anhalten, geraten Kinder und Jugendliche durch die Erwartungshaltung der Eltern immer weiter in einen Strudel, aus dem sie nur sehr schwer wieder herauskommen. Sie ziehen sich aus dem Unterricht zurück, werden still, trauen sich wenig zu und entwickeln eine Angst vor Klassenarbeiten. Hier können sie sich dann nur noch sehr schwer konzentrieren, verhauen die Arbeit und geben damit dem Gedanken "War ja klar, dass ich das nicht schaffe" zusätzlich Nahrung.

Schulnoten sind nicht zwingend aussagekräftig

Als Folge dieses Leistungsdrucks kann es zu psychosomatischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen kommen, um sich der Schule zu entziehen. "Im Extremfall führt dieses Verhalten zu Schulverweigerung oder Aggressivität – die Schule wird dann zum Hassobjekt", sagt Drewes.

Dass selbst für die Schulnote "4" mindestens 50 Prozent der Punkte erreicht werden müssen oder der Sprung von einer "5" auf eine "3" eine große Leistung ist, sehen viele Eltern dabei nicht.

"Schulnoten geben die Stellung eines Schülers hinsichtlich der von ihm erbrachten Leistungen in seiner Lerngruppe wieder, und zwar nach Einschätzung seines Lehrers und im Vergleich zu den Leistungen seiner Mitschüler.", sagt Albert Zimmermann, Lehrbeauftragter für pädagogische Psychologie an der Universität Köln. Die Grundlage der Benotung sei damit keinesfalls eine objektive Feststellung des Leistungsstandes. Denn in einer anderen Klasse würde das Kind vielleicht eine ganz andere Note bekommen. Die Eltern sollten sich deshalb den wahren Aussagewert einer Schulnote immer wieder vergegenwärtigen.

Unternehmen setzen nicht nur aufs Zeugnis

Das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn das Abschlusszeugnis am Ende der Schulzeit über den Ausbildungsplatz entscheidet. Laut Stefan Drewes betrachten jedoch mittlerweile viele Ausbildungsbetriebe das Zeugnis ihrer Bewerber etwas differenzierter. Wer beispielsweise in den Hauptfächern keine guten Noten hat, kann durch einen Ausgleich in anderen Fächern zeigen, dass er sich durchaus engagieren kann und gute Leistung bringt, wenn ihm der Stoff Spaß macht.

Sowohl Unternehmen als auch Universitäten setzten außerdem immer öfter auf Auswahltests, um auch Schülern mit einem schlechteren Notendurchschnitt die Chance zu geben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Wer mit seinem Kind trotzdem effektiv an guten Noten arbeiten will, sollte zuerst bei sich selbst anfangen: "Bei vielen Eltern muss heute immer alles schnell schnell gehen. Kinder brauchen jedoch jemanden, der Ruhe und Sicherheit ausstrahlt", sagt Buchautor Michael Winterhoff ("Warum unsere Kinder Tyrannen werden").

Wechsel vom analogen zum digitalen Zeitalter

Laut des Kinder- und Jugendpsychiaters befindet sich die heutige Elterngeneration in einem permanenten Alarmzustand, ist ständig unter Strom. "Der Wechsel vom analogen zum digitalen Zeitalter hat uns nicht gut getan. Unser Gehirn ist analog angelegt – wir können nicht drei Dinge effektiv zugleich machen", sagt Winterhoff.

Das kann bereits morgens zu Reibereien führen. Etwa, wenn das Kind sich nicht schnell genug anzieht, das Frühstück schon wartet und ein Termin eingehalten werden muss. Das Verhalten von Kindern ist tagesformabhängig und kann den Plan im Kopf der Eltern schon einmal gehörig durcheinander bringen. Die Erwachsenen geraten dann in Stress und geben den Druck an ihre Kinder weiter – die Folge ist eine Verweigerungshaltung auf Seiten der Kinder.

Waldspaziergang ohne Handy, Hund und Laufschuhe

Allen Eltern, die wieder gelassener werden wollen, rät Winterhoff zu einem Experiment: "Man muss sich auf einen Waldspaziergang von vier bis fünf Stunden einlassen – Handy, Hund und Laufschuhe müssen zu Hause bleiben. Nach etwa drei Stunden passiert etwas Unglaubliches: Der Druck ist von einer auf die andere Minute weg. Der Tunnelblick verschwindet und man bekommt die nötige Distanz zu den Alltagsproblemen." So werde die Grundlage geschaffen, um ein gesundes Verhältnis zum Kind aufzubauen und auch im Hinblick auf die Schule wieder verständnisvoller und intuitiver zu handeln.

Auch viele Schulen versuchen mittlerweile, Kindern und Jugendlichen entgegenzukommen und sie individuell nach ihren Neigungen zu fördern und somit kindgerechter zu arbeiten.

Reformschule wirbt mit ihrem Konzept

Ein Beispiel hierfür ist die Winterhuder Reformschule in Hamburg. Hier wird den Schülern die Möglichkeit gegeben, ihren Neigungen entsprechend Themenschwerpunkte zu wählen und an zahlreichen eigenen Projekten zu arbeiten – Frontalunterricht wie in normalen Schulen sucht man vergebens.

Von Zeit zu Zeit gehen die Schüler aus Winterhude auch in benachbarte Schulen und stellen dort ihr Schulkonzept vor. Sie sorgen dabei nicht selten für staunende Gesichter – allerdings nicht bei den Schülern, sondern bei den Lehrern der anderen Schulen.

Doch wenn das Konzept so überzeugend ist, warum existiert es dann nur an vergleichsweise wenig Schulen? "Bei reformpädagogischen Schulen gibt es ein klares, relativ einfaches Modell", sagt Albert Zimmermann von der Universität Köln. "Das Kollegium muss sich jedoch in der Umsetzung einig sein und die erforderliche Mehrarbeit leisten. Ein Konsens ist oftmals nur schwer zu erreichen."

Emotionale Bildung der Psyche

Michael Winterhoff sieht in diesen Schulmodellen gar die Gefahr, dass die emotionale Bildung der Psyche verloren gehe und das Kind dadurch später nicht in der Lage sei, Strukturen und feste Abläufe zu erkennen.

Den perfekten Weg aus der Leistungsdruck-Falle gibt es demnach nicht - jedoch ein paar Tipps für alle Beteiligten: Eltern sollten etwas gelassener werden, Lehrer neuen Unterrichtsformen gegenüber aufgeschlossen sein und Lehrpläne sich an den heutigen Bedürfnissen von Kindern orientieren. Dann wäre selbst das Abitur nach zwölf Jahren gar nicht mehr so schlimm, wie es manch einem momentan vielleicht noch erscheinen mag.

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