Schmusen ist nichts Globales

Darstellungen in Film und Fernsehen legen nahe, dass Küssen eine universelle menschliche Praxis sei – daran melden Forscher nun Zweifel an

Bloomington/Wien – Küssen kann verschiedenste Folgen haben. Die meisten davon sind fraglos angenehm und auch der Gesundheit zuträglich: Küssen führt durch Ausschüttung von Oxytocin zu einer engeren Bindung der Liebenden, stärkt das Herz-Kreislauf-System und die Immunabwehr.

So werden bei einer zehn Sekunden lang dauernden Schmuserei nicht weniger als rund 80 Millionen Bakterien von Mund zu Mund übertragen, wie kürzlich niederländische Forscher herausfanden. Das führe bei oftmaliger Wiederholung sogar zu einer Angleichung der Mundflora.

Die Allgegenwärtigkeit von Kussdarstellungen in Filmen oder in der bildenden Kunst legt nahe, dass Schmusen unter Menschen etwas Universelles und rund um den Globus verbreitet sei. Das behauptet auch die Kussexpertin Sheril Kirshenbaum in ihrem einschlägigen Standardwerk "The Science of Kissing", das 2011 erschien.

Ein Team um Justin Garcia vom Kinsey-Institut der Uni Bloomington ist dieser Frage nun erstmals mit anthropologischen Methoden nachgegangen – und kam zu einem anderen Ergebnis. Und das würde uns zeigen, wie sehr westlicher Ethnozentrismus unser Denken über menschliches Verhalten verzerrt, so Justin Garcia.

Das Kussexpertenteam nahm insgesamt 168 Kulturen rund um den Planeten unter die Lupe und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis. In insgesamt 54 Prozent dieser Kulturen spielt "romantisches Küssen" keine Rolle, schreiben die Forscher im Fachblatt "American Anthropologist".

Konkret habe die Vergleichsstudie ergeben, dass Schmusen im Mittleren Osten besonders weit verbreitet sei: In allen zehn untersuchten Kulturen sei Küssen eine verbreitete Praxis. In Europa würden 70 Prozent aller Kulturen schmusen, in Asien 73 Prozent und in Nordamerika 55.

So gut wie unbekannt sei Küssen hingegen bei zentralamerikanischen Ethnien, bei Populationen im Amazonasgebiet, im Afrika südlich der Sahara oder auf Neuguinea. Die Forscher vermuten zum einen, dass Küssen erst mit besserer Mundhygiene ihren Siegeszug antrat. Zum anderen sei offensichtlich, dass in sozial komplexeren Gesellschaften mehr geschmust werde. (tasch, 8.8.2015)

Leave a Reply