"Quantensprung in den Keller"

Für den Münsinger Diplompsychologen Dr. Heiner Holzapfel stellt das von der AOK und der Bosch BKK aufgelegte Facharztprogramm (Artikel vom Dienstag, 17. Juli"Ohne Warteschleife in die Therapie") einen Wendepunkt in der Versorgung auf dem Land dar. Innerhalb von drei Tagen könne er Patienten, die am Facharztprogramm teilnehmen, einen Termin anbieten. Das monatelange Hinausschieben einer Behandlung gehöre damit der Vergangenheit an. Das gilt für den Bereich Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie (PNP).

Für Dr. med. Klaus-Ulrich Wiest (Facharzt für Innere Medizin) ist das"bestenfalls nur die halbe Wahrheit". Denn ganz anders sieht es auf der Alb bei den Fachgebieten Kardiologie und Gastroenterologie aus. Die entsprechenden Verträge seien"von Großstadtpraxen für Großstadtpraxen gestaltet und schließen sich normalerweise gegenseitig aus. Eine adäquate internistische Versorgung im ländlichen und kleinstädtischen Raum kommt hierin nicht vor".

DieÄrzteschaft im Münsinger Raum hat im Vorfeld verschiedene Interventionsversuche unternommen. Die Konstruktion der Facharztverträge, so heißt es in einem Brief , unter anderem adressiert an die AOK Neckar Alb und an den MEDI-Verbund, würde zur Eliminierung der breit aufgestellten fachinternistischen Versorgerpraxen in Kleinstädten führen.

Dr. med. Klaus-Ulrich Wiest wurden zwar Verträge angeboten, diese jedoch auf ein Jahr (Kardiologie) beziehungsweise zwei Jahre (Gastroenterologie) begrenzt. Damit hatte sich die Sache schon im Vorfeld erledigt. Denn:"Eine nachhaltige und zukunftsfähige Teilnahmemöglichkeit - mit entsprechendem Investitionsbedarf - war und ist für mich somit nicht gegeben und unter den derzeit gegebenen Bedingungen der Facharztverträge auch nicht erstrebenswert."

Für die Patienten, die am Facharztprogramm - das im übrigen von der AOK stark beworben wird - teilnehmen, können die Folgen fatal sein, was vielen nicht bewusst sei. Künftig wird ihnen eine ortsnahe ambulante internistische Untersuchung oder Behandlung in Münsingen untersagt. Dr. med Klaus-Ulrich Wiest kann sie in seiner Praxis nur noch als Privatpatienten aufnehmen. Auch eine ambulante Behandlung in der Inneren Abteilung der Münsinger Albklinik ist nicht mehr möglich. Mit der Unterschrift unter den Facharztvertrag (FAV) verpflichten sich die Patienten in jedem Fall einen Spezialisten beispielsweise in Reutlingen oder Ulm aufzusuchen.

Da mag es für die Betroffenen wie Hohn klingen, wenn von"Quantensprung in der Versorgung" geredet wird. Der Zusatz"für den Keller", findet Dr. med. Klaus-Ulrich Wiest, sei da schon eher angebracht.

Dass eine ambulante internistische Versorgung in Münsingen schlichtweg nicht mehr stattfindet, wenn sich Patienten an den FAV binden, werde bei dem Thema häufig unterschlagen."Den Patienten wird pauschal, auch durch werbende AOK-Mitarbeiter, eine bessere Versorgung versprochen, ohne dass es hiefür irgendwelche Belege gibt, als ob die Patientenversorgung in Münsingen bisher schlecht wäre." Für den Fall, dass sich tatsächlich viele Patienten in den FAV einschreiben, könne sich jeder ausrechnen, welche Auswirkung dies für die gesamte internistische Versorgung in Münsingen haben wird.

Ein weiteres Problem seien die"unrealistischen und aberwitzigen Terminversprechungen" für die Patienten, die seiner Meinung nach mit Sicherheit ab einer gewissen FAV-Patientenzahl bei weitem nicht eingehalten werden könnenund insofern nur falsche Erwartungen wecken würden. Dr. med. Wiest:"Es bleibt wohl das psychotherapeutische Geheimnis von Dr. Holzapfel, warum die einen Patienten sieben Monate warten müssen, während die anderen sofort einen Termin bekommen können."

Um nicht missverstanden zu werden: Jeder Patient habe die Freiheit, sich für oder gegen einen Facharztvertrag zu entscheiden. Nur sollte er vorher auch das"Kleingedruckte" lesen. Vielen sei gar nicht klar, dass sie damit nur noch von jenen Medizinern behandelt werden können, die an den Programmen teilnehmen."Sie unterliegen mit der Unterzeichnung des Vertrags nicht mehr dem Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung und müssen bei ihrer Krankenkasse klären, wer für ihre wohnortnahe fachärztliche internistische Versorgung künftig verantwortlich ist." Eine reiflicheÜberlegung sei angebracht. Denn ist erst einmal die Entscheidung pro Facharztvertrag gefallen, lässt sich dies nicht so schnell revidieren.

Info Die geschilderten Probleme betreffen ausschließlich die Facharztverträge. Die hauszentrierte Versorgung (Hausarztprogramm) ist davon nicht betroffen. Bei weiteren Fragen sollten sich die Patienten an ihren Hausarzt wenden.

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