Psychologie: Wenn die Kinder ausziehen

Psychologie Wenn die Kinder ausziehen

Und was kommt jetzt? Das fragen sich viele Elternpaare nach dem Auszug der erwachsenen Kinder

Jahrzehntelang dreht sich alles um den Nachwuchs. Dann wird er flügge, und die Eltern bleiben im leeren Nest zurück. Vor allem Mütter trauern. Für sie gibt es jetzt in Berlin eine Gesprächsgruppe

Bitte übertragen Sie den Code in das folgende Feld

28.06.14, 08:52

Psychologie

Jahrzehntelang dreht sich alles um den Nachwuchs. Dann wird er flügge, und die Eltern bleiben im leeren Nest zurück. Vor allem Mütter trauern. Für sie gibt es jetzt in Berlin eine Gesprächsgruppe

Von
Gerlinde Unverzagt

Foto: Thinkstock / Wavebreakmedia Ltd

Und was kommt jetzt? Das fragen sich viele Elternpaare nach dem Auszug der erwachsenen Kinder

Und was kommt jetzt? Das fragen sich viele Elternpaare nach dem Auszug der erwachsenen Kinder

Sie freuen sich alle schon mächtig auf Weihnachten – und das mitten im Sommer! Denn an Heiligabend werden alle Kinder wieder zuhause sein. Weihnachten ist Wiedersehen. "Da fallen wir dann alle wieder ins Mutterloch", spottet Bettina Teubert liebevoll. "Kochen und wirbeln, und alle spielen für ein paar Tage die alten Rollen." Die Mütter, die sich hier um den Tisch versammelt haben, nicken. "Und dann ist die Wohnung wieder leer", sagt eine und seufzt. "Wenn sie länger blieben, würde es aber auch schwierig werden", wirft Bettina Teubert ein.

Dass man Kinder nicht kriegt, um sie zu behalten, sondern sie eines Tages in ihr eigenes Leben entlassen muss, ist natürlich allen Müttern klar. Doch die Freude darüber, sich endlich erfolgreich überflüssig gemacht zu haben, will sich oft nicht einstellen. Noch dazu ist es in Deutschland eher unüblich, über die Trennung von den erwachsenen Kindern zu sprechen. Über den Zustand der Leere, wenn sie das Haus verlassen haben. Dass offen darüber geredet werden muss, wie Frauen den Übergang von der aktiven zur passiven Mutterschaft bewältigen, fand Bettina Teubert wichtig und hat vor einem Jahr in Berlin Deutschlands erste und bislang einzige Selbsthilfegruppe für verlassene Mütter ins Leben gerufen, die Empty Nest Moms (Enmoms).

Sie wollen stark wirken

Nur hinter vorgehaltener Hand, unsicher und voller Selbstzweifel, wagten Mütter ihren Schmerz zuzugeben, hat Bettina Teubert beobachtet. Sie fürchteten, einen Makel zu offenbaren, wenn sie darüber sprächen, wie sie sich fühlten. Sie wollen stark wirken, auch wenn sie sehr trauern.

Mit dem Auszug der Kinder beginnt eine schwierige Zeit vor allem für die Mütter, weiß Bettina Teubert aus ihrer Arbeit als Heilpraktikerin und Familientherapeutin, aber auch aus eigener Erfahrung. Ihre beiden Kinder sind erwachsen, die Tochter zog vor vier Jahren, der Sohn vor drei Jahren aus. "Als sie da mit dem gepackten Anhänger stand und weinte, musste ich mich schwer zusammenreißen, um nicht auch in Tränen auszubrechen." Es muss ja nicht so schlimm kommen wie bei einer Freundin, die ihr anvertraute: "Ich bin ein halbes Jahr im Wald herumgelaufen und hatte Selbstmordgedanken. Aber mit so 'nem Scheiß belastet man doch keinen."

Im Internet gibt es ein paar Blogs und Foren für Eltern, die sich auf ihre neue Rolle einstimmen wollen. Sie können in vielen Wenn-das-Kind-auszieht-Ratgebern stöbern und meiden ansonsten das Thema eher – aus Furcht, belächelt zu werden, weil es sich anfühlt wie Liebeskummer, nur schlimmer?

Deutscher Mutter-Mythos

Der wabernde deutsche Mutter-Mythos nimmt aber auch die an die Kandare, die nicht sehr trauern. "Ich habe doch keine Kinder in die Welt gesetzt, um sie bis zu meinem Ende zu bemuttern", schreibt eine Mutter in einem Internetforum und nimmt den Vorwurf vorweg: "Ich muss wohl eine Rabenmutter sein, aber ich empfinde es nicht als schmerzhaft, wenn die Kinder ausziehen."

Wie man Kinder aufzieht und festhält, nicht, wie man einander entkommt und neu begegnet, sind die beherrschenden Familienthemen unserer Kultur. Dabei neigen auch wir Älteren dazu, die Warte der Jüngeren einzunehmen. Alles Recht, aber auch alle Not scheint auf ihrer Seite zu liegen. Selbst Dichter werden zu Parteigängern: Ob ihre Helden nun Holden Caulfield ("Der Fänger im Roggen"), Werther oder Törless heißen, die Leiden der Heranwachsenden scheinen uns näher zu sein als die ihrer Eltern – als dürften Eltern nicht zugeben, dass es schwerfällt, die Kinder loszulassen.

Eltern leben mit der gesellschaftlichen Erwartung, das alles ganz großartig und reibungslos zu absolvieren. Sie neigen dazu, ihr eigenes Verständnis für die Ansichten, Lebensweisen und Entscheidungen ihrer Kinder zu überschätzen, und sind enttäuscht, wenn Kinder es ihrerseits an Verständnis für die Gefühle ihrer Eltern mangeln lassen. Wer hat noch nie einen Vater schmollen sehen, weil sein Sohn nicht mit ihm spielen wollte? Oder eine Mutter, die ihre Tochter um die unbeschwerten Nächte auf Teenager-Partys beneidet? Ganz zu schweigen von einer, die eine andere im Supermarkt trifft und über der Schilderung des nunmehr komplett ausgeräumten Kinderzimmers in Tränen ausbricht.

"Super hier. Wie Krabbelgruppe ohne Kinder"

Besonders Mütter stünden unter Druck, alles nebenher zu erledigen, sagt Bettina Teubert. Im Bekanntenkreis reagiere man unterschiedlich auf die Traurigkeit der Mütter. Manche mitfühlend und verständnisvoll. Viele irritiert. Das sei doch normal und gut so, dass Kinder ausziehen. Ist es ja auch, doch bevor man die neuen Freiheiten richtig genießen könne, müsse man eben erst mal durch das Tal der Tränen. Zweimal im Monat treffen sich jetzt die Mütter in der Selbsthilfegruppe, um sich über die neue Lebenssituation auszutauschen. "Super hier. Wie Krabbelgruppe ohne Kinder", habe eine mal gesagt. Eine andere freute sich darüber, "endlich mal wieder über die Kinder reden zu können".

"Es ist toll, Frauen in meiner Situation zu treffen, die gerne Mütter sind, darüber kann man ja auch sonst nicht offen sprechen", sagt Gabi, deren Tochter schon mit 19 Jahren das Nest verließ, um mit ihrem Freund zusammenzuziehen und zu studieren, und zwar in Frankfurt/Oder, nicht in Berlin. "Das hat sie absichtlich so eingerichtet", vermutet Gabi, "denn hätte sie hier studiert, hätte ich sie wohl nicht so einfach gehen lassen." Das ist jetzt fünf Jahre her, und die Traurigkeit ist Gabi noch immer anzumerken. Sie wird wohl bald wieder stärker werden: Wenn ihre jüngste Tochter, die jetzt fünfzehn ist, ausziehen wird. "Davor graut mir jetzt schon, und meinem Mann auch."

Nur wenige Dinge erschüttern eine Mutter nachhaltiger als die Erkenntnis, dass es ein Leben ohne Kinder gibt. Sogar ein heimlich herbeigesehnter, rundum vernünftiger, lange vorbereiteter Abschied kann sie völlig am Boden zerstören. "Ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr kann das dauern", weiß Bettina Teubert. "Viele finden sich dann zu zweit, gehen zum Sport oder ins Theater und knüpfen Kontakte zu anderen Frauen." Sie würde sich freuen, wenn sich noch mehr Frauen trauen würden. Die Online-Resonanz auf ihre Website sei riesig. "30 bis 40 Anfragen pro Woche", sagt sie und liest die E-Mail einer Mutter vor, die stellvertretend für viele steht: "Ich weine viel und bin tieftraurig. Als verlassene Mutter habe ich eine Identitätskrise, denn es ist, als sei ein Bestandteil von mir entfernt worden. Ich fühle mich absolut nicht wohl in meiner Haut, bin appetitlos, antriebslos, lustlos, machtlos, kriege zeitweilig kaum Luft und Kapazitäten für andere Personen habe ich kaum noch."

Das Empty Nest Syndrom beschreibt eine Krise, doch manchmal kann es auch die Tür für eine echte Depression öffnen. Dazu müssten dann aber noch andere Faktoren kommen, sagt Bettina Teubert und rät dieser Mutter, schnell professionelle Hilfe zu suchen.

Sie will gebraucht werden

Auch bei Jutta traten berufliche Belastungen zur Loslösung der Söhne dazu. Als auch der zweite Sohn ausgezogen war, hielt sie dem Stress am Arbeitsplatz nicht mehr stand und verfiel in eine tiefe Depression. Heute bezieht sie Erwerbsunfähigkeitsrente und hat sich zur Tagesmutter ausbilden lassen – eine Arbeit, "bei der ich wieder aufgeblüht bin", sagt sie lachend. "Es ist doch schön, gebraucht zu werden". Ganz ohne Angst, ein Frauenbild zu vermitteln, bei dem die Frau sich opferbereit aus dem Restleben auf das Mama-Universum zurückzieht, spricht sie von der Freude, Mutter zu sein, und der Traurigkeit darüber, dass die heiße Phase vorüber ist.

"Früher wurden wir fürs Loslassen mit Enkelkindern belohnt", formuliert Bettina Teubert eine steile These, "das ist heute nicht mehr so." Jutta konnte die Belohnung allerdings einstreichen. "Ich habe schon ein Enkelkind", sagt sie und schaut mit blitzenden Augen in die Runde, "aber dann ist mein Sohn nach Norwegen ausgewandert." Da hilft jetzt nur die Technik. Skypen mit Kamera, das ist doch schon fast wie ein Gespräch. Nur knuddeln kann man noch nicht übers Internet. "Die Kleine fehlt mir schon sehr", sagt Jutta, "aber wir haben uns schon fünfmal in diesem Jahr besucht."

Einander entkommen und neu begegnen

Enkelkinder, ja, das wär's – da sind die Mütter hier sich einig. Doch vorerst gilt es, an der guten Beziehung zu den Kindern zu arbeiten.

"Kinder brauchen die Trennung, um dann wieder Nähe zuzulassen", sagt Bettina Teubert. "Heute haben meine Kinder und ich ein neues, aber sehr enges und partnerschaftliches Verhältnis." Auch Jutta schwebt eher Freundschaft vor, wenn sie an die Beziehung zu ihren erwachsenen Söhnen denkt, in der sie lernen musste, sich zurückzuhalten. Es sei wichtig, dass man seine Meinung sage, wenn man gefragt werde, aber nicht versuche zu bevormunden. Gabi stimmt ein. "Ich unterbreche mich im Satz, wenn ich sagen will, 'Hast du schon...' oder 'Warum machst du nicht...'" Die ständige Angst davor, sich zu sehr einzumischen, betonen alle Mütter hier. "Damit verjagt man sie", sagt Jutta, "und das will man ja nicht."

Ganz loslassen, so scheint es, will heute niemand mehr so richtig. Eltern bleiben immer Eltern, Kinder immer Kinder – die Unauflöslichkeit der Konstellation schimmert auch in den Hoffnungen der Eltern auf ein freundschaftliches und enges Verhältnis mit den erwachsenen Kindern durch. Ein gewisser Unwille der Kinder, auf eigenen Füßen zu stehen, lässt sich am durchschnittlichen Alter ablesen, in dem die Kinder das Nest verlassen: Zogen 1970 noch etwa um den 20. Geburtstag herum die Kinder aus, hat sich das Ereignis heute bei etwa der Hälfte aller jungen Erwachsenen um fast zehn Jahre nach hinten verschoben – wobei junge Frauen den Schritt in die Unabhängigkeit zwei Jahre früher gehen als junge Männer. In Deutschland leben etwa dreißig Prozent der 25- bis 34-Jährigen noch bei ihren Eltern, zwei Drittel davon sind Söhne.

Das neue Ziel heißt Freundschaft

Das Phänomen, dass Kinder immer länger bei ihren Eltern wohnen oder wieder zu ihnen zurückkehren, ist nicht neu. Neu ist aber, dass sich zwischen Kindern und ihren Eltern etwas Grundlegendes verändert hat: Freundschaft zu pflegen ist das Ziel, die Nähe soll aufrecht erhalten werden, auch wenn man sich räumlich trennt. Eltern und Kinder sind bei Facebook befreundet, tägliche Telefonate zwischen Müttern und Töchtern sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Das gegenseitige Klammern ist offenbar zur Norm geworden, und das macht die Trennung heute so knifflig, verglichen mit den Auszügen früherer Generationen aus dem Elternhaus.

Ich habe nach dem Abi einen klapprigen VW-Bus vollgepackt, um in mein eigenes Leben aufzubrechen, vorsätzlich mein altes Kinderzimmer nie wieder zu bewohnen und bin losgefahren. Danach hat meine Mutter drei Monate nichts von mir gehört – so lange hat es nämlich gedauert, bis ich einen Telefonanschluss in meiner neuen Wohnung hatte. Das Telefonieren war teuer, deshalb habe ich später nur hin und wieder sonntags zum Billigtarif angerufen. Auf die Idee, ihr eine Postkarte zu schreiben, die sie über meine glückliche Ankunft in Berlin informiert, bin ich schlicht nicht gekommen. Heute weiß ich, dass ihr der Ärger prima dabei geholfen hat, die Sorgen zu beschwichtigen, sich zu sammeln und ihre Tochter auch innerlich in ihr eigenes Leben zu verabschieden.

Trennung light

Ich dagegen werde fast ein bisschen hysterisch, wenn meine Kinder unterwegs sind und Stunden nach der mutmaßlichen Ankunft immer noch keine SMS ankommt, Skype aufploppt oder wenigstens bei Facebook was gepostet ist. Nestflucht geht heute anders als früher vonstatten. Ausgezogen wird noch immer analog, aber dank der digitalen Zaubermedien bleiben wir zusammen. Trennung light statt Abschieds-Leid: Brettspiele im Kreise meiner Lieben sind vorbei, aber wir bombardieren uns per Smartphone mit Quiz-Duell, wenn einer in der U-Bahn sitzt und Langeweile hat. Kam früher die Tochter auf einen Schwatz in der Küche vorbei, ach, meldet sie heute per Skype Gesprächsbedarf an. Aus Texas! Wie schön, dich zu sehen, mein Schatz! Geht's dir gut?

Stolpersteine beim Selbstständigwerden hätten wir früher experimentell gelöst oder jedenfalls ungefragt ratschlagende Mütter selbstbewusst abgewimmelt. Fragen, wie man den Strom-Anbieter wechselt, Rotweinflecken aus T-Shirts rauskriegt und wie lange man Kartoffeln kochen muss, beantworte ich heute mit dem linken Daumen, in maximal 140 Zeichen, per SMS und jederzeit.

Meine Mutter hat mich früher mit Zeitungsausschnitten genervt, die sie mir schickte. Dass der Ingenieursberuf fulminante Chancen für Frauen böte, dass es wichtig sei, in jungen Jahren eine Zahnersatzversicherung abzuschließen und dass meine heimische Volleyballmannschaft wieder gewonnen habe. Das interessierte mich kein Stück. Meiner Tochter schicke ich Youtube-Links und sie freut sich darüber, sagt sie jedenfalls und kommentiert eifrig.

Dank der modernen Medien bleiben wir zusammen, während wir uns trennen. Nur hin und wieder nuscheln wir etwas von Funklöchern und leeren Akkus, um dem sanften Terror der immerwährenden Erreichbarkeit ein paar kostbare Momente lang zu entgehen – und zwar beiderseits.

Auch für die Kinder ist es schwierig

Selbständigkeit kann ohne Eigenständigkeit kaum gelingen? Die Verbindung halten und sich zugleich abnabeln ist eine schwierige Aufgabe, auch für die Kinder. Höheres Heiratsalter, längere Ausbildungszeiten, finanzielle Gründe – was man der Generation Nesthocker von Seiten der Wissenschaft zuschreibt, hat auch eine Schattenseite: "Ist das auf Bequemlichkeit oder auch auf Rücksichtnahme der Kinder oder vielleicht auf die schon vorhandene Pflegebedürftigkeit der zum Teil schon 70-jährigen Eltern zurückzuführen?", fragte der Soziologe Karl Schwarz 1989 in einer der ersten Spurensuchen zum Nesthocker-Phänomen.

Bettina Teubert bekommt auch E-Mails von Töchtern: "Ich bin jetzt 18 Jahre alt, werde bald 19 und denke nicht im Traum daran, in Kürze das Nest zu verlassen. Mich verbindet ein sehr enges Band mit meiner Mutter (sie ist geschieden und hat uns, also mich und meine Schwester, allein aufgezogen) und ich mache mir jetzt schon Sorgen, was aus ihr wird, wenn ich mal nicht mehr zuhause bin."

Sicher ist es traurig, wenn die Kinder gehen. Noch trauriger ist aber, wenn sie nicht gehen können. Es gibt Mütter, die kaum Aussicht haben, das Nest jemals leer zu sehen. Weil ihre Kinder, von Geburt an oder später hinzugekommen, mit körperlichen, seelischen oder geistigen Beeinträchtigungen leben müssen, die ihnen niemals ein eigenständiges Leben erlauben werden und ihren Müttern kaum Chancen eröffnen, die Verantwortung für die Kinder jemals in deren Hände übergeben zu dürfen, sie loszulassen und die eigenen Hände wieder frei zu haben.

Mehr Geld, mehr Zeit, mehr Platz

Tatsächlich hat das Ganze ja auch sein Gutes. Wenn die Kinder ausziehen, hat man mehr Geld, mehr Zeit und mehr Platz. "Das habe ich auch versucht mir einzureden", sagt Gabi leise, und die anderen nicken. "Der Arbeit, meiner Leidenschaft", sagt Bettina Teubert fröhlich, "kann ich jetzt mehr Zeit widmen." Sie bewohnt nun eines der leeren Kinderzimmer. "Dorthin kann ich mich zum Lesen zurückziehen und da kann ich auch mal alles rumliegen lassen."

Ich höre mich bei weiteren Müttern um. Die eine hat allen Familienballast abgeworfen, sagt sie, hat sich freigeschwommen und ist im Begriff, eine schicke Penthouse-Wohnung mit zweieinhalb Zimmern für sich allein zu beziehen. Eine andere plant, sich neu zu verlieben.

Bei Elternpaaren ausgezogener Kinder gestaltet sich die räumliche Herausforderung, die Leerstelle mit neuem Leben zu füllen, nicht weniger heikel. "Mütter lassen gerne alles so, wie's ist, und stellen Gläser mit Sand und getrockneten Hortensien in das verwaiste Kinderzimmer, das dann zu ihrem Rückzugsort wird", sagt eine Freundin. Eine andere berichtet von Vätern, die flugs den Billard-Tisch ins leere Kinderzimmer gestellt haben. Dann erzählt sie von ihren eigenen jüngeren Geschwistern, die damals im Elternhaus jedes leer werdende Zimmer einfach besetzten und bewohnten. "Wir nannten sie nur die Kammerjäger."

Hinnehmen, was nicht zu ändern ist

Bündig fasst sie zusammen: Die erste Frage ist, wem gehört das Zimmer, Mutter oder Vater? Der Konflikt ist da, wenn das Kind zurückkommen will. "Nach einer Party, einfach zum Ausruhen oder nach einer gescheiterten Beziehung", sagt sie, "und wenn es dann wieder in sein altes Zimmer will." Hm, vielleicht ist das genau das Problem. Wenn die Leerstelle gefüllt ist, gibt's keinen Platz mehr für das Kind, dem wir bislang den größten Platz in unserem Leben eingeräumt haben. Und das doch so gerne!

Hin- und hergerissen zwischen Veränderungs- und Beharrungskräften steht das leere Kinderzimmer als Chiffre für den Stand der Auseinandersetzung mit der Realität. Die gemeinsame Familienzeit unter einem Dach mit überquellenden Kinderzimmern ist vorbei. Soll man also weiter die Kräfte im inneren Widerstand gegen das Unabänderliche verschleißen oder hinnehmen, was nicht zu ändern ist, und den Rest der Wirklichkeit nach eigenen Wünschen gestalten?

Leiden ist am Ende nur der Protest gegen das, was ist.

Die Selbsthilfegruppe "Enmoms" trifft sich jeden 1. und 3. Dienstag im Monat von 17.30 Uhr bis 19 Uhr im "Eulalia Eigensinn e.V.", Lutherstraße 13, 13585 Berlin. Die Adresse im Internet: www.enmoms.de

Leave a Reply