Psychologie: Revierverhalten unterm Sonnenschirm

Mit wildfremden Leuten auf engstem Raum, bekleidet nur mit einem winzigen Stück Stoff: Der Mensch am Strand befindet sich in einer Ausnahmesituation. Wieso bleibt er dabei so friedlich? von Claudia Wüstenhagen

Psychologie: Revierverhalten unterm Sonnenschirm

Unter welchem Sonnenschirm ist wohl der deutsche Urlauber?  |  ©nicolasberlin / photocase

Aus der Luft betrachtet, wirkt so ein Badestrand wie eine Miniaturwelt, eine putzige
Siedlung, in der Zwergenmenschen ihrem friedvollen Leben nachgehen. Unter bunten
Sonnenschirmen rücken sie zusammen, einträchtig nebeneinanderliegend lassen sie sich die Sonne
auf ihre kleinen Bäuche scheinen. Was für ein vergnügliches Miteinander. Was für eine –
Illusion.

In Wahrheit ist so ein Strand ein komplexes Sozialgefüge mit festen Regeln. Der Eindruck von
Gemeinschaft täuscht. Fast nirgendwo isoliert sich der Mensch so sehr wie hier.
Alone
Together

hat der Anthropologe Robert Edgerton sein Buch über das Sozialverhalten am
Badestrand genannt. Inmitten der halb nackten Masse sind wir gern für uns, ungestört.

Anzeige

Edgerton hat Badegäste am Strand von Santa Monica beobachtet. Das war in den Siebzigern –
offenbar auch in der Wissenschaft eine freizügigere Zeit. Er ging der Frage nach, wie so viele
Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Herkunft und so leicht bekleidet auf
engem Raum zusammentreffen können, ohne dass es kracht. Sein Fazit: Der Mikrokosmos Strand
funktioniert, weil jeder für sich bleibt. Weil jeder die anderen ausblendet. Und weil jeder
sein eigenes Revier absteckt.

Dieser Text stammt aus dem ZEIT Wissen 5/2014, das am Kiosk erhältlich ist.

Dieser Text stammt aus dem ZEIT Wissen 5/2014, das am Kiosk erhältlich ist.

Der Mensch neigt zum Territorialverhalten. Er breitet sich gern aus und markiert, was ihm
gehört. Man kennt das aus dem Zug: Dort besetzen Reisende sogar Viererplätze für sich allein.
Manch einer verteilt sein Hab und Gut auf den freien Sitzen, damit ihm ja niemand Gesellschaft
leistet. Warum sollte das am Strand anders sein, wo uns nichts als ein Fetzen Stoff von der
Umwelt trennt?

Auch wenn es nur ein paar Stunden sind, die der Badegast am Strand verbringt, er will seinen
Körper auf ein Fleckchen Sand legen, das nur ihm gehört. Also breitet er Handtücher aus, rammt
Sonnenschirme in den Boden wie einst die Amerikaner ihre Flagge in den Mond. Er stellt Taschen
und Kühlboxen auf, verschanzt sich hinter Zeitungen, in Windmuscheln und Strandkörben,
schaufelt Sandwälle und mitunter ganze Burgen auf. Das meiste davon erfüllt auf den ersten
Blick einen funktionalen Zweck. "Es kann aber auch symbolisch sein – zur Abgrenzung", sagt die
Umweltpsychologin Elisabeth Kals von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Jeder Mensch braucht einen persönlichen Raum, fühlt sich nur dann wohl, wenn er die Kontrolle
über seine Umgebung hat. Er will seine Privat- und Intimsphäre wahren und im Notfall fliehen
können. Der Mensch ist – und hier trügt der Blick aus der Vogelperspektive nicht –
verletzlich. "Wenn andere uns zu nahe kommen, geraten wir in Stress", sagt Kals. Dann schlägt
unser Herz schneller, wir fangen an zu schwitzen. Das ist der Grund, warum wir im Fahrstuhl
oft zu Boden oder zur Anzeige starren. So stellen wir die fehlende Distanz symbolisch wieder
her.

Das Bedürfnis nach Distanz ist je nach Kultur unterschiedlich. "Südamerikaner und Südeuropäer
lassen erwiesenermaßen mehr soziale Nähe zu als etwa wir Deutschen", sagt Kals. Zum einen
seien die Menschen hierzulande individualistisch geprägt und begriffen sich nicht gern als
Teil einer Masse. Zum anderen seien sie förmlicher. Das ist empirisch belegt: In zwei Studien
verglichen Psychologen – ebenfalls in den Siebzigern – das Revierverhalten von Deutschen,
Franzosen und Amerikanern am Meer. Fazit: Die Deutschen, ob am Strand von Sylt oder
Saint-Tropez
, tolerierten weniger Dichte, beanspruchten häufiger besonders große Flächen und
errichteten die meisten Sandwälle.

Wo sich auf den Fotos hier im Heft deutsche Touristen befinden, wissen wir nicht. Wir können
es nur vermuten.

Open all references in tabs: [1 - 5]

Leave a Reply