Psychologie: Krisen schlagen auf Kinder durch

Wenn die Wall Street wankt und man im TV die Buben sieht, die das Unheil angerichtet haben und nun schreckensbleich mit ihren Laptops und anderen Habseligkeiten in Pappkartons aus den Büros taumeln, aus denen sie gerade gefeuert wurden, dann macht man sich Sorgen. Nicht um die Buben, sie finden sich neue Wirkungsstätten, aber um andere und um sich selbst natürlich auch. Wird die Krise durchschlagen auf das eigene Leben, oder macht man sich nur selbst mit Ängsten verrückt? Sie schlägt durch bzw. sie wird durchgeschlagen, im Wortsinn, zumindest auf die, deren Mütter eine besondere Genvariante haben.

Wie Ökonomie, Biologie und Psychologe da zusammenspielen, hat ein Team um Irwin Garfinkel (New York University) anlässlich der Great Recession von 2007 bis 2009 erhoben – so heißt sie, weil sie in den USA die größte Krise seit der Great Depression der 1930er-Jahre war –, an 612 Müttern und ihren fast 5000 Kindern, die im Rahmen der „Fragile Family and Child Wellbeing Study“ in 20 US-Städten seit 1998 von Forschern begleitet werden, 20 Prozent der Frauen erziehen allein, 40 Prozent sind verheiratet, der Rest lebt mit Gefährten.

Werden Kinder angeschrien? Geschlagen?

Sie alle wurden periodisch befragt, kurz nach dem Gebären und dann, als die Kinder ein, drei, fünf und neun Jahre alt waren. Dabei ging es ab dem Alter von drei auch um das Klima der Erziehung, fünf Fragen zielten auf Psychisches – werden die Kinder angeschrien etc.? –, fünf auf Physisches – werden sie geschlagen etc.? –, zudem wurde den Müttern eine Speichelprobe entnommen. Dem gegenübergestellt wurden sozioökonomische Daten, die Arbeitslosenraten in den entsprechenden Städten und die landesweit abgefragten Erwartungen für die Zukunft („National Consumer Sentiment Index“).

Letztere waren entscheidend: Mütter, die schon zu Beginn der Great Recession arbeitslos waren, änderten das Verhalten gegenüber ihren Kindern nicht. Aber von denjenigen, die nun etwas zu fürchten hatten, tat es die Hälfte, sie wurde gröber, psychisch wie physisch. Und die andere Hälfte? Sie agierte weiter wie zuvor, zwei Typen von Müttern kristallisierten sich heraus. Sie unterschieden sich nicht durch ihre soziale Lage, Bildung etc. – die Forscher überprüften alles –, sie unterschieden sich im Speichel bzw. einem Gen darin. Es ist zuständig für einen Rezeptor für den Neurotransmitter Dopamin – er regelt Reaktionen auf bedrohliche/lockende Umwelten –, er kommt in zwei Varianten vor, die sich in einer Punktmutation unterscheiden.

Die eine, die „sensible Variante“, setzt die Sorgen um die Zukunft in Grobheit gegen Kinder um, und sie bewirkt auch Entspannung, wenn die große Lage sich entspannt, allerdings ist der Pendelschlag nach unten stärker. Die andere lässt nichts durchschlagen und schlägt nichts durch, wer vorher geschlagen hat – 31 Prozent –, schlägt weiter, und wer es vorher nicht getan hat, tat es auch in der Krise nicht (Pnas, 5. 8.). „Das ist ein starker Beleg dafür, dass ein Wandel der makroökonomischen Bedingungen und nicht jener der aktuellen Lage das Erziehungsverhalten beeinflusst“, schließen die Forscher und zitieren einen, der das in der Great Depression schon geahnt hat, den US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt: „Das Einzige, was wir fürchten müssen, ist die Furcht selbst.“

Aber nicht jede(r) muss sie gleich fürchten, der Befund stützt auch die Hypothese von den Orchideen und vom Löwenzahn. Ihr zufolge reagieren Träger bestimmter Genvarianten stark auf die Umwelt – Orchideen sind sensibel –, während andere immer und überall gedeihen, so wie der Löwenzahn. Alles allerdings hält auch er nicht aus. Und was wird aus Kindern, wenn die Krise wirklich hart kommt, wenn es nichts mehr zu essen gibt? Dem ist eine Gruppe um Adam Hayward (Sheffield) nachgegangen, ihr ging es um die langfristigen Gesundheitsfolgen frühen Mangels.

Bereitet früher Hunger auf Not vor?

Bei diesen konkurrieren zwei Hypothesen, die eine setzt auf „Predicitve Adaptive Response“ (PAD) und darauf, dass mit späteren Notzeiten besser fertig wird, wer früh eine erfahren musste. Die andere hingegen sieht Menschen besser vorbereitet, die früh wohl versorgt waren, mit einem „silver spoon“. Sie hat recht, das zeigt Hayward an Daten aus Finnland: Dort herrschte 1866–68 eine Hungersnot, während der viele starben, es ist in Sterberegistern und Kirchenbüchern verzeichnet. Aus ihnen kann man auch die Lebensgeschichten bzw. die Bedingungen rekonstruieren, unter denen die Verhungerten aufgewachsen waren (Pnas, 5.8.): Die in der Kindheit Mangel hatten, litten am ärgsten.

Der Befund hat eine weit reichende Konsequenz: Bisher setzten viele auf PAD und darauf, dass Leiden wie Diabetes sich dann ausbreiten, wenn Menschen, die früh Mangel hatten und sich darauf einstellten, plötzlich in guter Versorgung leben. Darauf deuteten bisher auch viele Studien, aber sie müssen nun überdacht werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2013)

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