Psychologie : Hochsensibilität – "Diese Veranlagung ist eine Stärke"

Psychologie Hochsensibilität - "Diese Veranlagung ist eine Stärke"

Sascha Wünsche aus Pankow berät hochsensible Menschen und hält Seminare über Hochsensibilität

Coach Sascha Wünsche berät Hochsensible und erklärt, was die Menschen ausmacht und worauf sie im Alltag achten sollten

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06.09.14

Psychologie

Coach Sascha Wünsche berät Hochsensible und erklärt, was die Menschen ausmacht und worauf sie im Alltag achten sollten

Foto: privat

Sascha Wünsche aus Pankow berät hochsensible Menschen und hält Seminare über Hochsensibilität

Sascha Wünsche aus Pankow berät hochsensible Menschen und hält Seminare über Hochsensibilität

Was ist Hochsensibilität genau? Wie geht man am besten mit dieser Veranlagung um? Darüber sprach Beatrix Fricke mit Sascha Wünsche. Der Pankower bietet Coachings und Seminare für Hochsensible an.

Berliner Morgenpost: Herr Wünsche, was ist Hochsensibilität genau?

Sascha Wünsche: Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Ich spreche sogar am liebsten von einer Begabung. Woher sie kommt, erkläre ich am besten an einem Bild: Das Nervensystem arbeitet wie ein Filter. Es selektiert sämtliche Impulse nach Art und Umfang. Bei Hochsensiblen funktioniert dieser Filter anders als bei Normalsensiblen. Daher haben sie eine erhöhte Empfänglichkeit für äußere wie innere Reize.

Wie wirkt sich das aus?

Hochsensible nehmen zum Beispiel Geräusche und Berührungen stärker wahr, und was ihr Innenleben angeht, bleiben Erinnerungen, Vorstellungen und Gedanken länger und intensiver in ihrem Bewusstsein. Das hat Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite haben Hochsensible ein tiefes Erleben und können gut mit anderen mitfühlen. Auf der anderen Seite sind sie schneller überreizt und brauchen lange, um Dinge zu verarbeiten. Ein schwelender Konflikt kann sich zum Beispiel noch nach Wochen so heiß anfühlen wie am Anfang.

Wie viele Menschen sind in Deutschland betroffen?

Man sagt, dass 15 bis 20 Prozent der Menschen hochsensibel sind. Viele wissen es vielleicht gar nicht, denn wer nicht an seiner Veranlagung leidet und in einem Umfeld lebt, wo seine Wesensmerkmale geschätzt werden, wird sich kaum auf die Suche machen. In Deutschland ist die Hochsensibilität allerdings noch nicht so angesehen. Man gilt leicht als schwach, weniger leistungsstark oder auch ungesellig, wenn man sich wegen zu stark empfundener Reize mal zurückzieht. Die meisten Hochsensiblen sind eher introvertiert, es gibt aber auch extrovertierte.

Wie kann man feststellen, ob man hochsensibel ist?

Es gibt drei wesentliche Merkmale, die allen Hochsensiblen eigen sind: Das ist das lange Nachhallen von Gefühlen, die schmale Komfortzone zwischen "alles wird mir zu viel" und "mir ist langweilig" sowie eine schnelle Überreizbarkeit. Im Internet gibt es Tests, mit denen man feststellen kann, ob man selbst hochsensibel ist. Sie haben nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Diagnose, aber mit ihnen kann man ein Gespür für die Veranlagung entwickeln und schauen, ob man selbst hochsensibel ist.

Gibt es Hochsensibilität schon bei Kindern?

Ja, bei vielen Menschen äußert sich die Hochsensibilität schon ganz früh. Das war bei uns selbst auch so. Ich wollte mit meinem Sohn zum Babyschwimmen und hatte die romantische Vorstellung, dass er entspannt im Wasser paddelt. Tatsächlich fing er schon als Baby in jeder größeren Menschenmenge an zu schreien. Kaum ging man, war Ruhe. Als ich nach möglichen Gründen suchte, stieß ich auf das Thema Hochsensibilität. Meine Frau war die erste, die sah, dass ich selbst auch diese Veranlagung habe.

Gibt es Personengruppen, für die die Hochsensibilität besondere Probleme birgt?

Personen, die mehrere Belastungssituationen gleichzeitig zu bewältigen haben, haben es schwer, für sich in ihrer Besonderheit Sorge zu tragen. Ich denke da spontan an Mütter, die Haushalt, Beruf und Kinder gleichzeitig zu managen haben, und an Jugendliche in der Pubertät, die mit der Schule, der Clique und der eigenen Entwicklung zurecht kommen müssen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Schon ein einfacher Spielplatzbesuch kann eine hochsensible Mutter überfordern, weil zu viele Gedanken, Bedenken und Stimmungen in ihr herumwirbeln über das, was sie mitnehmen müsste und was passieren könnte. Wenn es dann zu einer Blockade kommt und nichts mehr geht, sollte man mit sich selbst freundlich und nachsichtig sein. Man sollte sich klarmachen: Ich schaffe das vielleicht jetzt nicht, aber das bedeutet nicht, dass ich es nie schaffe. Für den Umgang mit der Hochsensibilität hilft es, Routinen zu entwickeln, sich auf das Wesentliche zu besinnen und sich vielleicht auch eine verständnisvolle Begleitung zu suchen. Wenn sich eine hochsensible Mutter mit einer Freundin auf dem Spielplatz trifft, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verabredung einhalten, denn Hochsensible sind verantwortungsbewusst und gewissenhaft.

Nimmt die Zahl der Hochsensiblen in unserer reizüberfluteten, lauten, schnelllebigen Welt zu?

Ich denke, es gibt immer mehr Menschen, die mit diesen Erscheinungen nicht mehr klarkommen, aber sie sind nicht unbedingt hochsensibel. Was ich gut finde, ist, dass durch die allgemein empfundenen steigenden Belastungen das Verständnis und die Wertschätzung wächst für das, was Hochsensible repräsentieren. Ganzheitlichkeit, Feinfühligkeit, Achtsamkeit, eine gute Wahrnehmung wird zunehmend geachtet. Ich würde mir aber noch mehr Kenntnisse über Hochsensibilität wünschen.

Wie ist denn der Stand?

Die Mehrheit der Bevölkerung hat noch nichts von der Veranlagung gehört, und wer davon gehört hat, glaubt oft, sie sei krankhaft. Selbst Ärzte und Therapeuten wissen häufig nicht gut Bescheid. Das hat auch mit der Kontroverse um Hochsensibilität, Hochbegabung, ADS/ADHS und Asperger zu tun. Es gibt viele Überschneidungen und die Abgrenzung ist nicht ganz einfach. Fest steht: Hochsensible fallen oft aus der Norm. Aber das muss ja nicht schlecht sein.

Was kann die Umwelt tun, um Hochsensiblen den Alltag zu erleichtern?

Das ist nicht die Aufgabe der Umwelt. Ich wünsche mir einfach, dass man wertschätzend und so normal wie möglich mit Hochsensiblen umgeht und Interesse für ihre Veranlagung zeigt. Ich finde, dass Normalsensible viel von Hochsensiblen lernen können.

Verstecken sich aber nicht auch einige Menschen hinter dem Etikett, die mit dem Leben ganz allgemein nicht zurecht kommen?

Ich kenne niemanden, der sich hinter dieser Begabung versteckt und sich damit vor etwas drücken will. Im Gegenteil: Wer die Seite in sich entdeckt, erfährt meiner Erfahrung nach einen Aufschwung in seinem Leben. Viele Hochsensible leben mit der Einschätzung "Ich bin nicht richtig" und leiden. Wenn sie erkennen, was mit ihnen los ist, sind sie ungemein erleichtert und motiviert, ihr Leben neu zu ordnen. Viele Hochsensible haben zum Beispiel einen Beruf ergriffen, der zwar von der Sache her gut zu ihnen passt, etwa im künstlerischen, sozialen, beratenden oder medizinischen Bereich. Hier wollen sie ihre Kreativität und Empathiefähigkeit ausleben. Doch ist die Arbeitswelt nicht unbedingt so gestaltet, dass sie ihre Fähigkeiten einbringen können, weil sie zum Beispiel hektisch oder konkurrenzorientiert ist.

Was muss man tun, um gut mit der Veranlagung zu leben?

Grundlegend ist die Erkenntnis: "Ich bin normal und richtig". Dann geht es darum, sich nicht mehr zu verkriechen und Wertschätzung für sich selbst zu entwickeln. Hochsensibilität ist eine wichtige und wertvolle Begabung, auch wenn sie mal weh tut. Das darf sein, man muss nur Strategien für den Umgang damit entwickeln. Ich habe zum Beispiel erkannt, dass ich durch meine Gabe, stark zu reflektieren, leicht ins Grübeln abdrifte. Ich habe gelernt, das zu akzeptieren. Dadurch verliert die Sache schon mal an Schärfe und Endgültigkeit. Und ich weiß, dass mir Schreiben, Spaziergänge und Sport helfen, um aus dem Grübeln wieder herauskommen.

Ist es Ihre Aufgabe als Coach, anderen Hochsensiblen solche Wege aufzuzeigen?

Ja. Meine Aufgabe ist es zu verstehen, zu bestärken und bei Entscheidungen zu helfen. Ich suche mit meinen Klienten nach den Vorteilen ihrer Hochsensibilität und helfe, diese für die Umwelt zu übersetzen. Zwei Beispiele: Empathiefähigkeit ist eine kommunikative Stärke, die im beruflichen wie privaten Zusammenhang sehr geschätzt wird. Und: Es ist legitim und sinnvoll, mit dem Verweis auf eine höhere Leistungsfähigkeit nach einem ruhigeren Arbeitsplatz zu fragen. Wer seine Eigenheiten positiv bewertet, kann sie auch anderen Menschen gut nahebringen. Mich jedenfalls trifft der Vorwurf "Sensibelchen" heute nicht mehr, seitdem ich das als Stärke für mich erkannt habe. Ich würde entgegnen: "Richtig, lass mich dir das erklären!"

Mehr Infos: www.hoch-sensibel-leben.de

  • Zum Weiterlesen

    Georg Parlow: Zart besaitet, Festland, 23 Euro. Elaine N. Aron: Sind Sie hochsensibel? mvg, 17,90 Euro. Brigitte Schorr: Hochsensibilität. SCM Hänssler, 7,95 Euro.

    Anlaufstellen

    zartbesaitet.net (mit Test zur Feststellung der Veranlagung zur Hochsensibilität), hoch-sensibel-leben.de, sensibel-beraten.de, hochsensibel.org

    Suizid-Prävention

    An diesem Sonntag ist Welt-Suizid-Präventionstag mit einer großen Aktion vor dem Brandenburger Tor (14 Uhr). Mehr Infos und Kontaktadressen für Menschen in einer Lebenskrise: www.600leben.de

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