Psychologie: Der Kompass des Bösen

Ein Kind versteckt sein Gesicht hinter seinen Händen.

Mehr als 50 Jahre ist es her, dass der US-Psychologe Stanley Milgram die Barbarei zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand erklärt hat. Forscher bieten nun eine Neuinterpretation seiner klassischen Experimente an: Grausam wird der Mensch nicht nur durch Gehorsam - sondern auch durch soziale Identifikation.

Milgram revisited

20.07.2012

"Ich habe ein einfaches Experiment an der Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden, wie viel Schmerz ein gewöhnlicher Mitbürger einem anderen zufügen würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler dazu aufforderte", notierte Stanley Milgram 1974 in einer Rückschau.

"Starre Autorität stand gegen die stärksten moralischen Grundsätze der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu verletzen, und obwohl den Testpersonen die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie, und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf."

Simulierte Stromstöße

Die schockierenden Ergebnisse der Milgram'schen Versuche wurden - nicht zuletzt von Milgram selbst - als Bestätigung einer Diagnose gelesen, zu der auch Hannah Arendt in ihrer Analyse des Eichmann-Prozesses gekommen war. Die "Banalität des Bösen", die professionelle Grausamkeit, schrieb Arendt, wurzle im Pflichtbewusstsein und Gehorsam.

Feindschaft und Hass sind demnach für die Entstehung von Barbarei keine notwendigen Voraussetzungen. Adolf Eichmann, der Logistiker des Judenmordes, erledigte seine organisatorischen Pläne auf sachlich-bürokratische Weise - und verlieh ihnen gerade dadurch ihre vollständige Perfidie.

Gleichwohl ist das Böse nicht auf totalitäre Regimes beschränkt. Milgram hatte für seine Versuche ganz normale US-Bürger rekrutiert. Sie waren in der Mehrzahl bereit, anderen Menschen potenziell tödliche Stromstöße zu versetzten, sofern sie von einer Autorität (einem "Studienleiter") dazu aufgefordert wurden. Dass die Stromstöße freilich keine echten waren und nur simuliert wurden, wussten die Probanden nicht.

Identifikation: Triebkraft der Tat?

Die Studie:

"Working Toward the Experimenter: Reconceptualizing Obedience Within the Milgram Paradigm as Identification-Based Followership", Perspectives on Psychological Science (doi: 10.1177/1745691612448482).

Wie Forscher um Alex Haslam nun in einer aktuellen Studie zeigen, kann die übliche Deutung der Milgram'schen Versuche eines nicht erklären. Nämlich die Tatsache, dass sich einige Probanden dem Autoritätsdruck sehr wohl widersetzten und den grausamen Versuch auf eigene Initiative abbrachen.

Haslam vermutete, dass Obrigkeitshörigkeit möglicherweise gar nicht die entscheidende Einflussgröße für den Ausgang der Versuche gewesen sei - sondern vielmehr die Identifikation mit dem "Studienleiter", der die Befehle gab, das grausame Prozedere fortzusetzen.

Um diese Hypothese zu testen, führte der Psychologe von der University of Exeter Befragungen an Sozialpsychologen und Studenten zu verschiedenen Varianten des Milgram-Experiments durch. Sie bestätigte zumindest indirekt, was er vermutet hatte: Je mehr sich Probanden mit dem "Studienleiter" identifizieren konnten, desto eher waren sie gewillt, seinen widernatürlichen Befehlen zu folgen.

"Dieses Ergebnis führt uns weg von einem Standpunkt, der die akademische Psychologie seit einem halben Jahrhundert dominiert hat: die Ansicht, dass Menschen, die an barbarischen Akten teilhaben, nur wenig Einsicht in ihre Taten haben und sich sklavisch an die Vorgaben von Autoritäten halten", schreiben die Forscher in ihrer Studie.

Und bieten eine alternative Lesart an: Die soziale Identifikation statte Täter mit einem moralischen Kompass aus, der sie zum (grausamen) Handeln motiviere. Das passiere keineswegs gedankenlos, sondern liege im Bestreben der handelnden Personen.

"Ich habe nur meine Pflicht getan." Ein Satz, der früher schon wenig überzeugen konnte - im Licht dieser neuen Studie tut er es noch weniger.

Robert Czepel, science.ORF.at

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