Psychologie : Ausbruch eines Urgefühls

Gallen. „Es ist ein regelrechtes Volksleiden.“ Höfliche, zurückhaltende Menschen wie Heinz Gruber werfen plötzlich mit Kugelschreibern, Schuhen, Computerbildschirmen. Sie reißen das Tischtuch herunter. Oder sie jagen jemanden mit dem Küchenmesser durch die Wohnung. Wie ist so etwas möglich?

„Jähzorn hat mit dem Tier in uns zu tun“, sagt Itten. „Es ist ein Urgefühl, unkontrollierbar und zerstörerisch.“ Evolutionär sind solche Wutausbrüche als Drohgebärden entstanden, vermutet er. „Als Notfallreaktion, um als Beutetier dem tödlichen Biss doch noch zu entkommen.“ Doch was im Reiche der Tiere hilfreich gewesen sein mag, erweist sich im Alltag der Menschen meist als Schuss in den Ofen: Gerade jähzornige Eltern richten Schaden an, sagt Itten. Kinder reagieren verstört auf deren Wutausbrüche. Sie glauben, sie seien schuld daran, dass Vater oder Mutter plötzlich wie von Sinnen sind. „Die Kinder werden als emotionale Blitzableiter missbraucht und viele benötigen später therapeutische Hilfe.“

Theodor Itten – 60 Jahre alt, drahtig, braun gebrannt, glatt rasiert – sieht wie ein Fitnesstrainer aus. Er hat in England Psychologie und Sozialwissenschaften studiert, eine Zusatzausbildung zum Therapeuten absolviert und 1981 in St. Gallen seine Praxis eröffnet. Unzählige Opfer von Cholerikern hat er seither therapiert. Und auch viele, die selbst unter Jähzorn leiden. So viele, dass er beschloss, ein Buch über dieses Problem zu schreiben, das in der Psychologie weitgehend vernachlässigt wird („Jähzorn – Psychotherapeutische Antworten auf ein unberechenbares Gefühl“, Springer-Verlag/Wien, 193 Seiten, 24,95 Euro).

Jeder vierte neigt zu Zornesattacken

In einer Studie befragte er 575 Männer und Frauen zu ihren Erfahrungen mit Jähzorn. Jeder vierte Interviewpartner outete sich als Choleriker. Und mehr als jeder fünfte gab an, Opfer von Jähzornattacken geworden zu sein. 64 Prozent der Jähzorn-Opfer litten unter einem cholerischen Vater, nur 15 Prozent unter Wutattacken der Mutter. Doch auch viele Frauen seien jähzornig, betont Itten. Die Wutausbrüche unterscheiden sich geschlechtsspezifisch, sagt er: Männer schreien öfter und werden auch häufiger gewalttätig, aber nur selten beides zugleich. Frauen hingegen tun bei solchen Anfällen oft Dinge gleichzeitig. „Sie brüllen etwa nicht nur, sondern werfen dabei auch mit Tassen und Tellern.“

Theodor Ittens helle Zweitwohnung in Hamburg. Auf dem Tischchen neben dem Sofa liegen ein Kochbuch von Jamie Oliver und das Fachmagazin „Psychoanalyse und Körper“. An einer Wand hängt eine Maske mit zornigen Zügen. Er kenne Jähzorn auch aus eigener Erfahrung, erzählt der Therapeut in seinem breiten Berndeutsch. Als 14-Jähriger habe er in einem Wutanfall seine Geige zertrümmert. „Im Höhepunkt der Jähzornattacke lauert ein Lustgewinn“, sagt er. Ein Jähzornausbruch ermögliche kurzfristig seelische Erleichterung. „Er führt aber zu keiner dauerhaften Befreiung in die Entspannung.“ Denn sobald der jähe Zorn verdampft sei, komme das ihn begleitende Schamgefühl an die Oberfläche, gemischt mit der Trauer, Mitmenschen verschreckt, eingeschüchtert und verletzt zu haben.

Die Anlässe für Jähzornattacken seien oft banal: das quietschende Geräusch eines Messers auf einem Porzellanteller oder die wiederholte Frage, ob man auch wirklich nicht friere? „Jähzornige reagieren wie kleine Kinder“, sagt Itten. „Oft reicht es, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Bedürfnisse übergangen werden, schon rasten sie aus.“

Interessanterweise werden ausgerechnet Menschen, die als Kind unter jähzornigen Bezugspersonen gelitten haben, später oft selbst cholerisch, hat Itten festgestellt. Er erklärt sich das so: „Kindern, die Opfer von Jähzorn werden, fällt es oft sehr schwer, Wut und negative Gefühle auszudrücken. Sie versuchen, ihre Emotionen aus Angst unter Kontrolle zu halten.“ Manche verdrängen ihre Gefühle so stark, dass sie sie nicht mehr spüren. „Und sehr oft ist es Jähzorn, in dem sich die aufgestauten Emotionen später entladen“, sagt Itten.

Jähzorn kann Beziehungen, Karrieren und Familien zerstören. Amerikanische Psychologen haben nachgewiesen, dass jähzornige Menschen oft zu Depressionen neigen, und sie häufiger zu Alkohol und Drogen greifen als Menschen ohne dieses Problem. „Meist handelt es sich bei Cholerikern um Personen mit schwachem Selbstwertgefühl“, sagt Itten. „Sie suchen ständig nach jemandem, die sie für ihre Situation verantwortlich machen können.“ Doch letztlich funktioniere diese Methode nicht: „Jemandem die Schuld zuzuschieben, löst keine Lebensschwierigkeiten auf.“

Sagen Sie Ihrem Chef, dass Sie jähzornig werden können

Gibt es Medikamente gegen Jähzorn? Itten lächelt. Ein klassisches Beruhigungsmittel wie Valium könne in Extremfällen etwas Linderung verschaffen. Doch er rät da eher ab. Man solle sich der Herausforderung Jähzorn stellen. Auch wenn das einen langen Atem brauche. Paaren empfiehlt er, ein Codewort festzulegen. „Manche sagen zum Beispiel ,Itten’“, erzählt der Therapeut. Das Codewort bedeutet: „Stopp, ich raste sonst gleich aus.“

Itten plädiert dafür, auch im Berufsleben offensiv mit dem Thema umzugehen. „Betroffene sollten ihrem Chef sagen, dass sie unter Jähzorn leiden , aber daran arbeiten, das Problem in den Griff zu bekommen“, sagt er. „Dann sind Vorgesetzte auch eher bereit, zu tolerieren, wenn der Mitarbeiter mal abrupt das Besprechungszimmer verlässt.“

Seine Klienten lässt er ein Jähzorn-Tagebuch führen. Itten schlägt ein Notizbuch auf und zieht in der Mitte einer Seite einen senkrechter Strich: Rechts werden Wutanfälle und ihre Auslöser notiert, erklärt er. Links daneben Begebenheiten aus der Vergangenheit, die „dazu in Beziehung stehen“. Kränkungen etwa, denen die Klienten in früher Kindheit ausgesetzt gewesen seien.

Soll man Jähzornige dazu drängen, sich professionell helfen zu lassen? Itten zögert. Diese Frage lasse sich schwer allgemein beantworten, sagt er. Die häufige Drohung: „Mach eine Therapie – oder ich verlasse dich!“ sei wenig hilfreich. „Druck kann Abwehrreflexe auslösen“, sagt Itten. Viele Choleriker neigen dann erst recht dazu, ihr Problem zu leugnen. Wer als Partner Verständnis zeige, dass es nicht leicht sei, mit einem aufbrausenden Temperament umgehen zu lernen, es mit diesen Ausrastern aber dennoch nicht so weitergehen dürfe, erreiche oft mehr. Sanfter Druck also.

Wichtig sei, dass die Betroffenen überhaupt etwas für sich tun, sagt Itten. „Es muss gar nicht unbedingt eine Psychotherapie sein.“ Musik, Spiritualität, Sport seien auch heilsam. „Manchen Menschen gelingt es, vor ihrer Wut davonzulaufen“, sagt er. Oft lägen unter dem Jähzorn aber Trauer und Enttäuschung verborgen. Wer sich mit diesen Gefühlen auseinandersetze, könne sein Leben verändern. Und: 61 Prozent der befragten Jähzornigen gaben an, den Auslöser für ihre Wutausbrüche jeweils zu spüren. Auch da lasse sich ansetzen. Fußballern etwa empfiehlt er bei versteckten Fouls und Beleidigungen folgende Sichtweise: „Wenn ein gegnerischer Spieler dich provoziert, macht er dir ein Kompliment. Er fürchtet deine spielerischen Fähigkeiten.“

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