Psychologie: Am Trauma wachsen

Als Rhonda Cornum zu sich kam, war es stockfinster und still. Dann sah sie
das Feuer. Kommandos aus ihrem Überlebenstraining ratterten durch ihren Kopf. Sie zwängte sich
aus dem Wrack des Hubschraubers, nur weg von den schwelenden Trümmern und den zerfetzten
Körpern ihrer fünf Kameraden.

24 Jahre ist das her. Der Hubschrauber der damals 36-jährigen Armeechirurgin war über dem Irak abgeschossen worden. Cornum wurde schwer verletzt, ihre beiden Arme waren gebrochen, sie war hilflos. Irakische Soldaten nahmen sie gefangen, drohten, sie zu töten, und missbrauchten sie sexuell. Nach einer Woche wurde sie befreit.

Armeepsychologen, Reporter und Freunde forschten sie später aus. Wie schwer waren ihre seelischen Verwundungen? Würde sie das Trauma überwinden? Cornum verblüffte sie alle: "Ich bin eine bessere Ärztin, eine bessere Kommandeurin, ein besserer Mensch geworden." Sie, die vorher noch nie auf Hilfe angewiesen war, könne nun ihre bettlägerigen Patienten besser verstehen. Sie schätze Freundschaften mehr. "All diese Dinge sind mir viel kostbarer geworden." Die Erwartung anderer, dass sie zwangsläufig auf Dauer geschädigt sein müsse, fand Cornum irritierend: "Jeder hat von posttraumatischen Belastungsstörungen gehört – aber keiner von posttraumatischem Wachstum!"

Psychisches Wachstum nach einem Trauma? Das klingt paradox. Denn die quälenden Folgen von schrecklichen Erfahrungen sind gut belegt: Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen. Doch Psychologen sammeln mehr und mehr Indizien dafür, dass ein dramatisches Erlebnis auch einen Neuanfang bergen kann. "Hier offenbart sich die Doppelnatur des Traumas", sagt der Therapeut Peter Levine. "Zum einen birgt es eine zerstörerische Kraft, zum anderen die Macht zu Transformation und Wiederauferstehung." Dafür prägten die Psychologen Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun von der University of North Carolina den Begriff vom posttraumatischen Wachstum. Doch sie bekommen Gegenwind: Kritiker halten positive Effekte für schlicht eingebildet.

Richard Tedeschi ist ein aufmerksamer Zuhörer mit einer vertrauenerweckenden, ruhigen Stimme. Er leitet seit 25 Jahren eine Gruppe für trauernde Eltern, berät Menschen, die ihren Partner verloren haben, Schwerverletzte, Krebspatienten und Veteranen. Immer wieder überraschten ihn Patienten damit, sie hätten nach einem Unglück festgestellt: "Mein Leben hat sich zum Besseren verändert. Ich glaube nicht, dass das so gekommen wäre, wenn mir das nicht passiert wäre. Alles zusammengenommen, hat es sich für mich zum Positiven gewendet."

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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 36 vom 03.09.2015.

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Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 36 vom 03.09.2015.
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Menschen berichteten von Zugewinnen in fünf Bereichen, sagt Tedeschi: Sie
seien sich ihrer eigenen Stärke bewusst geworden, hätten tiefere Beziehungen zu anderen
Menschen entwickelt, neue Lebensperspektiven entdeckt, wüssten das Leben stärker zu schätzen
oder hätten eine intensivere Spiritualität entwickelt. Er zitiert Studien mit Überlebenden von
Katastrophen, die von Tsunamis, Kidnappings und Vergewaltigungen bis hin zu Kriegen und Folter
reichen: 30 bis 70, in manchen Fällen sogar bis zu 90 Prozent der Betroffenen berichten, dass
sie mindestens einen Aspekt von posttraumatischem Wachstum erfahren hätten.

Ein Klient Tedeschis hat eine Arterienerweitung (Aneurysma) im Gehirn, die jederzeit platzen kann. Er musste fast alles aufgeben: seine Arbeit, seine Hobbys, seinen geliebten Sport. Zuerst war er deprimiert, später aber wurde ihm klar, dass er durch den Verlust dieser Aktivitäten andere Freuden gewann. Weil er Stress nicht gewachsen ist, hatte er keine andere Wahl, als mehrere Gänge zurückzuschalten. Er nennt es
slow life,
ein Leben im ersten Gang. Er habe nun eine bessere Beziehung zu seinen Kindern, weil er sich mehr Zeit für sie nehme. "Mein Leben ist besser als je zuvor", sagt er. "Ich kann jede Sekunde sterben, aber wenn ich das Aneurysma nicht hätte, wäre ich nicht in der Lage, das Leben auf diese Weise wahrzunehmen."

Es mehren sich Hinweise, dass Menschen wie Rhonda Cornum und die Patienten Tedeschis nicht die Ausnahme sind, sondern die Regel. Nur 6 bis 18 Prozent der Überlebenden von Verletzungen, Unfällen oder Kriegen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), sagt der Psychologe George Bonanno von der Columbia University. "PTBS verdient große Aufmerksamkeit. Aber die überwiegende Mehrheit derer, die lebensgefährlichen Ereignissen ausgesetzt waren, entwickeln diese Störung nicht. Das findet bisher nicht genügend Beachtung."

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