„Plötzlich gab es keine Grenzen“





  • Professor Klaus Schroeder hat mit anderen zusammen 2004 eine Studie über Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland im Ost-West-Vergleich herausgegeben.

Herr Professor Schroeder, mit Blick auf die Debatte um die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ werden Begriffe wie rechts, rechtsradikal, rechtsextrem, und rechtsterroristisch nicht immer begrifflich scharf getrennt, was unterstellt, dass ein Rechtsterrorist alle diese Stufen genommen haben muss, bis er Terrorist wurde. Wie trennen Sie diese Begriffe?

Man sollte in der Tat endlich genauer klären, was die Begriffe bedeuten; man sollte differenzieren. Zumeist wird ja generalisiert: Aus rechtsextrem wird rechts und ,Mitte‘ und damit hat man dann gleich ein Totschlagargument gegen alle, die nicht links sind. Unter rechts kann man jemanden verstehen, der großen Wert auf Sekundärtugenden legt, der insbesondere Sicherheit und Ordnung möchte, der national oder patriotisch eingestellt ist und so weiter – also das, was konservative Parteien rechts der Mitte ausdrücken. Rechtsradikal ist jemand, der zwar weit rechts steht, aber noch verfassungskonform agiert. Mit dem Rechtsextremismus überschreitet man dann die Linie hin zur Verfassungs- und Demokratiefeindlichkeit. Terroristen, Rechtsterroristen oder Linksterroristen – das sind Menschen, die bereit sind, Gewalt anzuwenden, um das System zu stürzen. Sie warten nicht – wie vielleicht noch manche Extremisten – darauf, dass für ihre Positionen Mehrheiten organisiert werden können. Rechts- wie Linksterroristen wollen mit einer sogenannten Propaganda der Tat die Bewegung stärken, den Staat stürzen und die Gesellschaft umwälzen. So könnte man das grob definieren.

Funktioniert das Ganze, vereinfacht und überspitzt formuliert, nach diesem Mechanismus: Wer rechts denkt, steht in der Gefahr, irgendwann rechtsradikal und dann rechtsextremistisch zu werden, um im schlimmsten Fall als Rechtsterrorist zu enden?

Sicherlich gibt es, wie auf der linken Seite auch, Grauzonen. Aber zwischen rechts und rechtsradikal besteht ein deutlicher Unterschied. Hier würde ich die Schnittmenge als sehr gering einschätzen. Der Übergang vom Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus zum Rechtsextremismus ist fließender, der vom Rechtsextremismus zum Rechtsterrorismus ist dagegen ein erheblicher. Zum Rechtsterrorismus gehören mehr als eine Ideologie und ein verfestigtes extremistisches Weltbild. Hier muss eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur gegeben sein, um Gewalt anwenden oder sogar morden zu wollen. Nur wenige Personen mit extremistischen Anschauungen haben diese Persönlichkeitsstruktur. Das war auf der linken extremen Seite Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre auch so. Viele haben damals die Notwendigkeit von Gewaltanwendung durchaus bejaht, waren aber nicht bereit, persönlich diesen Schritt zu gehen. Hier kommen psychologische Momente, das heißt die Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen, ins Spiel. Bei denjenigen, die jetzt gemordet haben, sind Sozialisation und Persönlichkeitsstruktur bisher viel zu wenig beachtet worden.

Gleichwohl werden die Taten des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ in zahlreichen Studien damit erklärt, dass die Gesellschaft erschreckend weit rechts stünde, rechtsradikale und extremistische Positionen mehrheitsfähig seien. Was halten Sie davon?

Davon halte ich wenig, denn diese Studien wie etwa die von Pädagogikprofessor Wilhelm Heitmeyer vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und anderen sind politisch motiviert und diffamieren die Mitte, indem sie faktisch behaupten, dass jeder, der nicht ihren linken Standpunkt teilt, bereits rechts oder rechtsradikal ist oder in Gefahr steht, es zu werden. Ich halte diese Studien für wissenschaftlich unseriös. Sie stellen suggestive Fragen, sie generalisieren und konstruieren damit ein rechtsextremes oder ausländerfeindliches Potenzial in der Bevölkerung, das in dem Maße überhaupt nicht vorhanden ist. Nicht jeder, der eine differenzierte und auch kritische Betrachtung etwa der Integration von Ausländern oder von Ausländergewalt anmahnt, ist rechtsradikal und schon gar nicht legitimiert er Rechtsterroristen. Umgekehrt gälte das ja genauso, wenn jeder, der die Banken und die Banker kritisiert, als geistiger Brandstifter bezeichnet würde, sollte ein Banker Opfer eines Attentats werden. Eine solche Methode ist fahrlässig, denn hier wird nicht differenziert, sondern generalisiert – das ist politisch motiviert und wissenschaftlich unseriös.

Dennoch hat die Behauptung Konjunktur, es drohe in Deutschland mittlerweile eine kulturelle Hegemonie der Rechten zu entstehen, die solchem Rechtsterrorismus wie im Fall des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ den Boden bereitet. Halten Sie solche Debatten also für überflüssig?

Nein. In Deutschland gibt es keine rechte Hegemonie, hier ist die kulturelle Hegemonie schon seit geraumer Zeit eindeutig links. Die Linken aller Schattierungen besetzen die Themen und bestimmen allgemeingültige Maßstäbe, die ihre eigenen sind, zur Beurteilung anderer. Wer ihre Positionen nicht teilt, der wird sogleich diffamiert. Sogar wer sich der Mitte zugehörig fühlt, wird als Extremist oder als potenzieller Rechtsextremer bezeichnet. Das ist ein sehr durchsichtiges Spiel, das hier von linker Seite betrieben wird.

Für Sie zählt also weniger eine politische Ideologie zu den Ursachen, die Terrorismus erklären, sondern die Psychologie der Täter. Was beobachten Sie hier mit Blick auf Gewalt im rechtsradikalen und rechtsextremen Milieu und auf den „Nationalsozialistischen Untergrund“?

Oft ist bei rechtsextremen Gewalttätern erst die Gewaltbereitschaft da und dann kommt die politische Gesinnung. Wir haben in einer eigenen Studie 2003/4 festgestellt, dass viele Jugendliche in diesen Szenen schon vorher zu gewaltbereiten Außenseitern der Gesellschaft gehörten und bereits Gewalt angewendet hatten. In dem Moment, als sie in rechtsextremen Cliquen politisch aufgeladene Gewalt übten, waren sie plötzlich in diesen Kreisen anerkannt. Da hatte die Gewalt für sie persönlich einen „politischen Sinn“ und sie fühlten sich hier aufgehoben. Das heißt, Gewaltprävention muss schon vorher ansetzen, höchstwahrscheinlich bereits in den Kindertagesstätten, damit besonders aggressive und gewaltbereite Kinder möglichst im frühen Kindesalter erkannt werden und man Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Man sollte also nicht warten, bis diese Kinder 14, 15 oder 16 Jahre alt sind und dann politisch motivierte Gewalt ausüben. Die Prävention muss vorher und jenseits der politischen Aufladung beginnen.

Aber irgendwie ist diese Gewalt doch schon politisch motiviert, oder?

„Politisch motiviert“ heißt: von ihrer politischen Einstellung her; bei Rechtsextremen ist dies ja oft ein plumper Rassismus und kein geschlossenes politisches Weltbild – dem kann ich zustimmen. In diesem Sinne sind das rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten. Aber auch dies sind nur Versatzstücke, denn die Gewalttäter sind ja oft schlichte Gemüter, die sich nicht intellektuell mit dem beschäftigen, was sie tun, sondern nachplappern, was ihnen intellektuell gebildetere Anführer vorerzählen. Dies schlägt dann in Gewalt um. Man muss hier differenzieren zwischen linken und rechten Gewalttätern. Linksextreme Gewalttäter sind zumeist intellektuell versierter und beschlagener als rechtsextreme.

Sie haben unlängst darauf hingewiesen, dass es statistisch gesehen mehr gewaltbereite Rechtsextremisten in den neuen Bundesländern gibt, was mit der Sozialisation in der früheren DDR zu tun habe. Sie nennen die dortige autoritäre Erziehung, Disziplinierung und Kollektivierung als psychologische Ursachen dieser Entwicklung. Können Sie das im Einzelnen genauer beschreiben?

Eine Jugend, die wie in der DDR mit Freund-/Feindbildern aufwuchs, die zum Klassenhass erzogen und weitgehend entindividualisiert wurde, die im Kollektiv aufgehen sollte, ist nicht bereit, individuelle Verantwortung zu übernehmen und sich individuell zu entwickeln. Dieser Jugend wurde vermittelt: Ihr müsst euch unterordnen. Man darf nicht vergessen, dass in der DDR in den Kindergärten und Schulen und auch zuhause mit harter Hand erzogen wurde. Was in der alten Bundesrepublik seit den siebziger Jahren tabuisiert war – Gewalt in der Familie – und allmählich zurückging, blieb in der DDR bis zu ihrem Untergang oftmals gängige Praxis. Mit dem Fall der Mauer, dem Beginn von Freiheit, hatte die DDR-Jugend plötzlich keine Regeln und Grenzen mehr. Junge Menschen, die um 1990 in der untergehenden DDR 15, 16 oder 17 Jahre alt waren, wuchsen gleichsam in einem Vakuum auf. Die alten Autoritäten gab es meist nicht mehr oder diese versuchten weiterhin, ihre überholten Werte zu vermitteln. Mit diesen hatten sie aber bei der Jugend keinen Erfolg mehr. In dieser Orientierungslosigkeit verkehrten Teile der Jugend die vermeintlichen Werte in ihr Gegenteil: Aus Klassenhass wurde jetzt Rassenhass, weil man ein Feindbild gewohnt war und diesen Feind vernichten oder ihm zumindest gewaltsam begegnen wollte. Keiner konnte hier Einhalt gebieten: Eltern und Lehrer hatten an Autorität verloren; viele – nicht alle – Lehrer hatten diese Autorität vorher nur qua Amt und nicht qua Sachautorität. Aus dieser Gemengelage haben sich in den neuen Bundesländern Gewaltbereitschaft und rassistische oder ausländerfeindliche Einstellungen entwickelt und verfestigt, die man in den ersten zehn Jahren nach 1990 allerdings verharmlost hat. Man ist dem nicht mit der gebotenen Härte entgegengetreten – deshalb konnte sich diese Gemengelage so lange und bis heute halten. Wenn Sie sich die jetzigen Täter des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ und ihres Unterstützernetzes ansehen, sind diese zumeist zwischen 35 und 40 Jahre alt – sie wurden also in der Umbruchszeit sozialisiert und erlebten das, was ich oben beschrieben habe.

Man soll nicht immer vergleichen: Aber einer der Gründe, warum die Weimarer Republik unterging, war der Druck von Rechtsextremismus und Linksextremismus, die Straßenschlachten von NSDAP und KPD und ihren Organisationen. Im heutigen Deutschland stehen sich auf der Straße auch wieder die sogenannte Antifa, der selbst ernannte antifaschistische Widerstand, und sogenannte Neonazis gegenüber. Entsteht da für unsere Demokratie eine Gefahr?

Wir beobachten in der Tat seit Jahren eine Zunahme der zwischenextremistischen Gewalttaten, bei denen sich Links- und Rechtsextreme Schlachten liefern, sich gegenseitig schlagen, niederknüppeln und so weiter. Das riecht nach Weimar. Aber eine andere und wesentliche Ursache für den Untergang der Weimarer Republik liegt in den unzureichenden demokratischen Einstellungen der damals staatstragenden Eliten in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. Das können wir derzeit in Deutschland nicht beobachten. Wir haben eine stabile demokratische Verfassung und Elite, die allerdings dazu stehen sollte. Sie muss den Feinden der Demokratie „null Toleranz“ ansagen und ihnen Einhalt gebieten, damit eben diese Weimarer Verhältnisse nicht einmal im Ansatz entstehen, falls es Turbulenzen im Wirtschafts- und Finanzsystem gibt, die wesentlich schwerer wiegen als die derzeitigen. Ich hoffe, dass die gesellschaftlichen Eliten heute ihren Part anders spielen werden als zu Weimarer Zeiten.

Während des Linksterrorismus in Westdeutschland tauchten in der Unterstützerszene etwa nach dem Mord 1977 an Generalbundesstaatsanwalt Siegfried Buback Schriften wie die des berühmten sogenannten Göttinger Mescalero auf, die eine „klammheimliche Freude“ über das Geschehen äußerten. Sehen Sie in der heutigen Bundesrepublik auch so eine Art „klammheimliche Freude“ über die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrundes“?

Ich glaube, dass es im rechtsextremen Milieu zumindest viele gibt, denen die Ermordeten gleichgültig sind, weil sie ein rassistisches Weltbild haben, in dem Ausländer oder Menschen mit ausländischen Wurzeln nicht als gleichwertig gesehen werden. Dieses biologistische Denken, die Unwertigkeit von anderen Individuen, anderen Nationen und Völkern kennzeichnet ja insbesondere den Rechtsextremismus. Gleichgültigkeit gibt es also auf jeden Fall, wenn nicht gar klammheimliche Freude.

Der These, dass ein rechter Mainstream den Boden für den „Nationalsozialistischen Untergrund“ bereitet hat und entsprechend hier allen Anfängen gewehrt werden müsse, können Sie nicht zustimmen. Auch der Versuch, mit einer ökonomischen Benachteiligung, Arbeitslosigkeit, fehlenden Aufstiegschancen solche Taten zu verstehen, greift nicht. Die Arbeit des Verfassungsschutzes und der Polizei hat die Morde nicht verhindert, die staatlichen Organe müssen viel Kritik einstecken. Was muss man aus Ihrer Sicht tun, um gesellschaftlich auf ein Phänomen wie dem des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ zu antworten?

Man sollte viel stärker die Werte unserer Gesellschaft betonen, für diese Werte einstehen, sie verteidigen und klarmachen, dass es jenseits dieser Werte kein gesellschaftliches Miteinander gibt. Gewalt darf kein Mittel der Auseinandersetzung sein, die Abwertung von Menschen darf nicht geduldet werden. Wir müssen viel deutlicher die Wertegrundlagen einer zivilen Gesellschaft von klein auf vermitteln – Eltern, Lehrer, Erzieher müssen viel mehr Mut haben, Pädagogen zu sein, Werte zu vermitteln und Werte vorzuleben.

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