Peter Strasser ist keine Maschine

Psychologie ist eine Wissenschaft, die von der Seele nichts wissen will. Auch die heutige Philosophie behandelt das fünfbuchstabige Wort, als ob es in einem Raubtierkäfig hause, den ein Gitter umgibt, auf dem kantige Schilder rufen: „Achtung, transzendentale Schwelle! Vor dem Überschreiten wird gewarnt!“

Peter Strasser, beamteter Philosoph und begnadeter Träumer, missachtet diese Schilder. Er spricht von der Seele, ja, sein neues Buch – eine Art „Greatest Hits“, mit zwei Bonus-Tracks – konzentriert sich auf sie, es ist Psychologie im wörtlichen Sinn.

„Seelenflutung“ heißt einer der beiden neuen Texte. Er erzählt von einer Patientin – Martha heißt sie, wie Freuds Frau, der Name ist hebräisch und bedeutet „Herrin im eigenen Haus“. Martha leidet unter „Horror animae“, unter „Seelenhorror infolge von Seelenbesessenheit“. Sie fürchtet, nicht mehr Herrin im eigenen Haus zu sein. Sie fürchtet, dass die Psyche, die sie „mein Eigen“ nennt, von einer Seele verdrängt wird.

„Solange wir eine Psyche ,unser Eigen‘ nennen, sind wir innerweltlich Krummgeschlossene“, meditiert Strasser. „Die Seele gedeiht im Klima der intimen Transzendenz, zum Beispiel dem Wunder meiner hellauf blühenden Orchideen.“

Ja, von Wundern spricht er, und sogar vom Paradies, das er im ersten, vielleicht berührendsten Kapitel des Buches, träumend sucht und aufwachend findet: im Diesseits. Im Traum hat ihm Petrus – in der Gestalt des Türhüters aus Kafkas „Vor dem Gesetz“ – erklärt, dass jeder seinen ganz eigenen Himmel hat. Das Grauen der Einsamkeit! „Um Himmels willen, dort hinter der Tür wartet auf mich die Erlösung“, denkt der Träumer. Und erkennt: „Alles, was ich will, ist doch bloß eines: Ich will nicht sterben. Ich will, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind. Meine Frau, meine Kinder, mein Vogel – ich will, dass sie mich mögen. Ich will meinen alten John Updike zu Ende lesen, damit ich mit meinem neuen John Updike beginnen kann.“ Der „neue John Updike“ hieß 2002, als Strasser das schrieb, „Seek My Face“, ein Zitat aus dem 27.Psalm: „Mein Herz denkt an dein Wort: ,Sucht mein Angesicht!‘ Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.“

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“, schrieb Paulus an die Korinther, „dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ „Bei verhängten Spiegeln“ heißt das erschreckendste Kapitel in Strassers Buch: die Vision eines 40-jährigen Maturatreffens, einer Parade der Angezählten, der Hinfälligen, die ihre Morgentoilette der Würde halber nur mehr bei verhängtem Spiegel verrichten. Im Grauen, im Grausen, das Strasser nicht nur in seiner „Presse“-Kolumne oft beschwört, dämmert die Frage: Ist dann auch nichts mehr hinter dem Spiegel?

„Da Menschen keine Maschinen sind, befinden sie sich immerfort auf der Suche nach ihrer Identität“, sagt Strasser. Und an anderer Stelle: „Mehr als 80 Prozent der heute lebenden Philosophen glauben, kein Ich zu haben. Sie glauben, ihr Ich sei eine von ihrem Gehirn in grauer Vorzeit produzierte Illusion im Dienste des Überlebenskampfes.“ Will heißen: Sie unterwerfen sich der heutigen Leitwissenschaft, der Biologie. Nein, Strasser ist kein Darwinismus-Kritiker, das „intelligente Design“ hält er für ein „Nachplapperwort“, für eine Zumutung angesichts des Leidens in der Welt. Aber er findet, wiederum am Rand eines Traums, einen Satz, der Innen- und Außensicht, Ich und Welt, poetisch verwebt: „Wir sind der blinde Fleck der Schöpfung, der die Finsternis der Welt erhellt.“ Schöner könnte es nicht einmal Leonard Cohen sagen. ■

Peter Strasser
Wie es ist, ein Philosoph zu sein

Strebers Erzählungen. 244S., brosch., €25,60 (Wilhelm Fink Verlag, Paderborn)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2012)

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