Orakel geben ein Gefühl von Sicherheit

Wir gehen Risiken ein, wenn wir Auto fahren, Geld anlegen, den Arbeitsplatz wechseln, uns verlieben", schreibt Stuart Vyse in seinem Buch "Die Psychologie des Aberglaubens". "Die Folgen unseres Handelns mögen erfreulich sein, traurig, oder keines von beiden, vorhersehbar sind sie jedoch nur selten. Die Unberechenbarkeit ist ein unausweichlicher Bestandteil jeder menschlichen Erfahrung, und jeder löst das Problem auf seine Weise."

Zur Fußball-EM kommen wieder Tierorakel zur Vorhersage von Spielausgängen zum Einsatz, wie bereits bei der WM 2010 mit dem Kraken Paul. Für den US-Psychologen ist dieses typisch abergläubische Verhalten eine Strategie, um der unberechenbaren Welt etwas entgegenzusetzen, und sei es nur eine Illusion, den Lauf der Dinge zumindest ein bisschen kontrollieren zu können.

Der Wunsch danach, die Zukunft vorherzusehen, ist nicht zufällig neben dem Fliegen und der Unsterblichkeit einer der großen Träume der Menschheit. Kontrollverlust und Unsicherheit sind besondere Quälgeister. In kleinen Dosen serviert, werden sie als reizvoll wahrgenommen, in größeren aber signalisieren sie Bedrohung und machen Angst. Das Bedürfnis nach Kontrolle ist beim Menschen so groß, dass nicht nur einer, sondern gleich mehrere psychologische Mechanismen darauf zielen, die Welt so verständlich, geordnet und vorhersehbar wie nur möglich erscheinen zu lassen.

Für sich genommen, ist das eine sinnvolle Erfindung der Evolution, denn es ermöglicht, auch kleinste potenzielle Zusammenhänge aus dem Wirrwarr der Umgebungsreize herauszufiltern. Manchmal allerdings führt das Sinn suchende Gehirn auch auf falsche Fährten. "Einige der Eigenschaften, durch die wir zu der die Erde beherrschenden Spezies wurden, sind zugleich auch die Wurzel unseres Aberglaubens", schreibt Vyse. So durchleuchtet das Gehirn immer, aber besonders in unbeeinflussbaren Situationen, die Umwelt nach Mustern. Diese ermöglichen es, die aktuelle Situation zu verstehen und zu schlussfolgern, was in der Zukunft daraus folgen könnte. Je unsicherer die eigene Lage jeweils ist, desto stärker ist dieses Verhalten ausgeprägt - ohne dass es bewusst wird.

In einer Studie im Fachblatt "Science" etwa entzogen die Forscher den Versuchspersonen in sechs Experimenten systematisch das Gefühl der Kontrolle: Sie ließen deren Computer völlig unberechenbares Feedback auf gelöste Aufgaben geben oder erinnerten die Probanden an eine Situation, in der diese sich einmal sehr hilflos gefühlt hatten. Eine weitere Gruppe von Probanden blieb dagegen in der Wahrnehmung ihrer Kontrolle unbehelligt. Anschließend zeigten die Wissenschaftler den Teilnehmern Bilder aus vielen schwarzen und weißen Punkten. Auf manchen von ihnen ergaben diese ein Bild, etwa ein Tier oder einen Alltagsgegenstand, und andere wiederum waren völlig zufällig zusammengestellt. Die Gruppe der Probanden, welche vorher verunsichert worden war, sah weitaus mehr Bilder in den Punkten - selbst in denen, die für alle anderen offensichtlich kein Bild enthielten.

Außerdem glaubten die Verunsicherten eher Muster in zufällig ausgewählten Börsendaten zu erkennen und entwickelten häufig Überzeugungen, dass ihr Handeln im Experiment doch einen Einfluss auf das Ergebnis gehabt habe. Dass die Illusion der Kontrolle kommt, selbst wenn man keinerlei Einfluss auf den Ausgang einer Situation hat, hängt mit einem fundamentalen Mechanismus der Informationsverarbeitung zusammen: Nah beieinander oder gleichzeitig auftretende Ereignisse werden als kausal zusammenhängend im Gehirn gespeichert. Dieser Mechanismus ist die Grundlage allen Lernens, bei Tieren ebenso wie beim Menschen. Einer der frühesten wissenschaftlichen Befunde zum Aberglauben stammt vom amerikanischen Lernforscher Burrhus Skinner.

Der Psychologe veröffentlichte 1948 einen Aufsatz mit dem Titel "Der Aberglaube in der Taube". Skinner setzte hungrige Tauben in eine Kiste mit einer automatischen Futterzufuhr. Alle 15 Sekunden fiel ein Futterkörnchen in die Kiste. Bereits nach wenigen Durchläufen entwickelten die Tauben bizarre Verhaltensweisen: Einige hackten ständig in eine Ecke der Kiste, andere drehten sich wie wild im Kreis und schlugen mit den Flügeln. Das Gehirn der Tiere hatte den Fall des Futterkörnchens mit einer Verhaltensweise verknüpft, die die Tauben zu diesem Zeitpunkt zufällig ausgeführt hatten. Obwohl die Rituale der Tauben keinerlei Einfluss auf die Futterdosierung hatten, verstärkte sich das Verhalten — denn manchmal fielen Ritual und Futterkörnchen eben doch zusammen.

Dieser Lernprozess der Konditionierung, bei der ein Reiz mit der Zeit mit einem anderen fest verknüpft wird, ist die Grundlage des Aberglaubens. Eine Studie an drei- bis sechsjährigen Kindern konnte zeigen, dass dasselbe Prinzip bei ihnen zu abergläubischen Überzeugungen führt. Die Kinder sollten einen Spielzeugclown dazu bringen, Murmeln auszuwerfen, die er in seinem Bauch hatte. Ohne dass die Kinder es ahnten, tat er das aber ohnehin automatisch alle 30 Sekunden. Die Kinder glaubten am Ende jedoch, es würde helfen, den Clown auf die Nase zu küssen oder eine Grimasse zu ziehen. Zwei Drittel der Kinder hatten schließlich ein eignes Ritual entwickelt, um den Clown zu beeinflussen.

Das Erstaunliche dabei ist, dass eigentlich sinnlose Rituale und Aberglauben sich entwickeln, obwohl die Verbindung der zwei Reize oft recht unbeständig ist. Die sogenannte Bestätigungstendenz ist einer der Gründe dafür. Menschen neigen dazu, eine einmal gefasste Ansicht zu verteidigen. Vorfälle, die den eigenen Glauben bestärken, werden deshalb eher wahrgenommen und auch besser erinnert als solche, die die Ansicht widerlegen würden. Schlägt ein Ritual fehl, suchen Menschen daher eher die Schuld bei sich als den Aberglauben anzuzweifeln. Auch die Erwartung spielt eine Rolle dabei, wie Umweltereignisse wahrgenommen werden. Studien zur Belastbarkeit von Zeugenaussagen vor Gericht etwa zeigen, dass Menschen selbst bei bestem Wissen und Gewissen nicht sehr gut darin sind, Ereignisse genauso zu schildern, wie sie passiert sind.

Aufrechterhalten wird ein Aberglaube auch durch das, was Psychologen die Verfügbarkeitsheuristik nennen. Sie besagt, dass Menschen leichter zugängliche Informationen für zuverlässiger halten als solche, die schwerer zugänglich sind. Einfach ausgedrückt bedeutet es, dass ein Aberglaube, der gesellschaftlich bereits verbreitet ist, recht schwer abgewehrt werden kann. Die soziale Gruppe kann ebenfalls ein wichtiger Faktor dafür sein, Rituale oder abergläubische Gewohnheiten zu entwickeln und für sich selbst anzunehmen. Gruppen neigen besonders dann zum Aberglauben, wenn der Ausgang ihrer Unternehmung stark von äußeren Bedingungen und Glück abhängt, wie jetzt bei der Fußball-Europameisterschaft. Daher sind Sportler neben Seeleuten, Bauern, Soldaten oder Schauspielern besonders abergläubisch.

Fußballprofi Miroslav Klose etwa soll beim Anziehen vor einem Spiel ein festes Ritual entwickelt haben, und immer mit dem rechten Fuß zuerst das Spielfeld betreten. Auch Golfprofi Tiger Woods ist abergläubisch: Er trägt am letzten Turniertag stets ein rotes Hemd. Tatsächlich kann ein Aberglaube trotz objektiver Sinnlosigkeit dabei helfen, Aufgaben besser zu bewältigen, wie eine Studie der Universität Köln heraus fand. Eine Gruppe ihrer Probanden bekam zum Golfspielen einen "Glückball", die andere einen normalen Golfball.

Die Spieler mit dem Glücksball waren nicht nur zuversichtlicher und konzentrierter, sie trafen deutlich häufiger. Doch Vorsicht: Solche sich selbst erfüllenden Prophezeiungen funktionieren in beide Richtungen. Wer glaubt, dass ein Talisman Glück bringt, fühlt sich sicherer. Und wer glaubt, dass schwarze Katzen Unglück bringen, stellt sich womöglich selbst ein Bein. Aberglauben ist menschlich, schreibt der Psychologe Stuart Vyse in seiner Schlussbemerkung. Er sollte deshalb nicht pauschal verurteilt werden. "Es ist leichter, abergläubisch zu sein, als dies zuzugeben." Zumindest den Fußballspielern sei ein abergläubisches Ritual also von Herzen gegönnt — vielleicht bestärkt es sie ja.

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