"Nur wer dünn ist, ist etwas wert"

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16. April 2012

BZ-Interview: Was macht Hungern attraktiv? Warum flieht man ins Essen? Ein Gespräch mit zwei Expertinnen über Essstörungen.


  1. Jennifer Svaldi Foto: privat


  2. Brunna Tuschen-Caffier Foto: Uni Freiburg

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Sie könnten als Luxusproblem in einer saturierten Gesellschaft abgetan werden, wären die Folgen nicht so erschreckend: Essstörungen wie Magersucht (Anorexie), Ess-Brechsucht (Bulimie) und Essanfallsstörungen können schwere körperliche Schäden verursachen. Eine Forschergruppe vom Institut für Psychologie der Freiburger Universität hat die psychologischen Zusammenhänge von Essstörungen genauer untersucht und wurde kürzlich für diese Arbeit mit dem mit 30 000 Euro dotierten Christina-Barz-Preis ausgezeichnet. Anita Rüffer sprach mit der Leiterin der Forschungsgruppe, Brunna Tuschen-Caffier, und der Wissenschaftlerin Jennifer Svaldi.

BZ: Frau Professor Tuschen-Caffier, Frau Svaldi, Essstörungen gelten vielen als ein klassisches Problem pubertierender Mädchen, unterschätzen sie damit die Dimension der Krankheit?
Tuschen-Caffier: Im Vergleich zu anderen psychischen Störungen fallen Essstörungen vielleicht nicht so ins Gewicht. Unter Angststörungen etwa leiden zehn Prozent der Bevölkerung. Nur ein Prozent leidet unter Anorexie, zwei Prozent unter Bulimie und bis zu vier Prozent unter Essanfallsstörungen. Es kommt aber nicht auf die Häufigkeit an, sondern wie schwerwiegend eine Erkrankung ist. Gerade die Magersucht gehört zu den schwersten psychischen Störungen, die mit sehr viel Leiden für die Person verbunden ist. Man weiß aus neueren Studien, dass an ihr mehr Menschen sterben als an einer Depression.

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BZ: Sind es stets junge Frauen, die Essstörungen haben?
Tuschen-Caffier: Das hängt von der Art der Störung ab. Unter den adipösen, also fettsüchtigen Patienten sind auch ein Drittel Männer. Aber generell gilt: Bis zu 95 Prozent der von Essstörungen Betroffenen sind weiblich. Am jüngsten sind die Anorexiepatientinnen, bei denen sich ein erster Erkrankungsgipfel im Alter von 13 Jahren zeigt. Patientinnen mit Bulimie und Essanfallsstörungen sind älter, im Schnitt 20 Jahre und aufwärts.

BZ: Wer ist denn besonders gefährdet?
Tuschen-Caffier: Man kann nicht sagen, es gibt die eine Ursache, und wenn man die findet und korrigiert, ist die Gefahr gebannt. In Lehrbüchern steht oft, es sei das übertriebene Sich-Orientieren an einem Schlankheitsideal. Das spielt zwar eine Rolle, ist aber nicht allein von Bedeutung – sonst müssten viel mehr Frauen erkranken. Längsschnittstudien haben eine ganze Reihe von Risikofaktoren zutage gefördert. Zum Beispiel ein sehr ungünstiges Essverhalten schon bei zehnjährigen Kindern, die sich Sorgen um ihre Figur machen und deshalb anfangen, Diäten zu halten. Sie steigen damit ganz früh in diesen Teufelskreis ein, ihren Körper in einen Mangelzustand zu bringen. Gerade in dieser sensiblen Wachstumsphase hat das gravierende Folgen, die nur schwer oder gar nicht rückgängig zu machen sind.

BZ: Welche zum Beispiel?
Tuschen-Caffier: Die Knochen können sich nicht richtig aufbauen. Bei jungen Frauen und Mädchen wurden fünf Jahre, nachdem sie von ihrer Anorexie geheilt waren, eine mangelhafte Knochendichte gemessen. Langzeitstudien haben nachweisen können, dass diese Patientinnen, wenn sie in die Wechseljahre kommen, eine erheblich stärkere Osteoporose entwickeln. Kalium- und Calciummangel bringen den Elektrolythaushalt ins Ungleichgewicht, was zu Organschäden wie Herz-Rhythmus-Störungen bis hin zum Herzstillstand führen kann. Die sekundären Geschlechtsmerkmale können sich nicht richtig ausbilden. Die Beispiele machen deutlich, wie sehr der gesamte Körper beeinträchtigt wird, wenn Menschen aufhören zu essen.

BZ: Wie äußert sich das im Alltag?
Svaldi: Die an einer Essstörung leidenden Mädchen oder jungen Frauen haben gar keine Vorstellung mehr davon, was eine normale Essensmenge ist. Da spricht etwa eine Anorexiepatientin von einem Essanfall, und wenn man nachhakt, hat sie ein halbes Brötchen zu sich genommen. Für jemanden, der jahrelang nichts mehr gegessen oder sich nur von Rohkost ernährt hat, ist das erschreckend viel. Bei übergewichtigen Frauen mit einer Essanfallsstörung verhält es sich umgekehrt: Eine normale Restaurantportion erscheint ihnen sehr, sehr klein.


BZ: Warum erkranken die einen und andere nicht?
Tuschen-Caffier: Damit das Schlankheitsideal derart krankhafte Ausmaße annehmen kann, muss der Boden dafür bereitet sein. Wir haben mit experimentellen Methoden nachweisen können, dass Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl besonders anfällig für Essstörungen sind. Schon im Frühstadium der Erkrankung wird Dünnsein unbewusst gleichgesetzt mit Attraktivität: Nur wer dünn ist, ist etwas wert. Das ist auch abhängig von unserer Kultur und unseren Werten: Definieren wir uns durch Schlankheit? Labile Frauen haben weniger Puffer gegenüber dem Druck, schlank sein zu müssen.

BZ: Und fühlen sich immer noch zu dick, selbst wenn sie schon wie Suppenkaspar aussehen …
Tuschen-Caffier: Frauen mit Essstörungen nehmen die eigene Erscheinung auf unterschiedliche Weise sehr verzerrt wahr: Die einen mögen sich überhaupt nicht mehr anschauen und verlieren jeglichen Bezug zur Realität. Die anderen haben ein übersteigertes Selbstwahrnehmungsbedürfnis, blenden dabei aber das Positive aus und starren nur auf die als zu dick empfundenen Hüften. Das Bild vom eigenen Körper ist ein ganz wichtiger Ansatz für die Therapie. Wer langfristig geheilt werden will, muss lernen, sich so anzuschauen, dass es gesundheitsförderlich ist.

BZ: Gibt es auch noch andere Antriebe als die Figur, das Essen fast einzustellen?
Svaldi: Magersüchtige junge Frauen zum Beispiel verbuchen es als Erfolg, wenn sie mit eiserner Disziplin ihr Körpergewicht kontrollieren können. Eine Kontrolle, die ihnen womöglich in sozialen Kontakten nicht gelingt. Dahinter steckt auch die Angst: Wenn ich die Zügel locker lasse, dann entgleitet mir alles. Essstörungen können auch ein Versuch sein, seine Gefühle in den Griff zu kriegen. Die Pubertät ist für viele junge Frauen sehr angstbesetzt, weil die ersten Erfahrungen mit der eigenen Sexualität und dem anderen Geschlecht anstehen. Indem ich meinem Körper das Frausein verweigere, kann ich das Thema bestens vermeiden. Periode und Libido bleiben aus. Viele untergewichtige Patientinnen beschreiben, dass sie gar keine Traurigkeit mehr spüren.
Tuschen-Caffier: Andere versuchen das Gegenteil: Gefühlen von Einsamkeit, Traurigkeit oder großer Anspannung mit Essanfällen zu entkommen. Was vorübergehend auch gelingt. Aber danach kommen die Schuldgefühle und das schlechte Gewissen.

BZ: Probleme nicht durch Essen lösen – das müssten doch eigentlich Kinder schon lernen können?
Tuschen-Caffier: Unsere Forschungen tragen dazu bei, dass Essstörungen früh zu erkennen sind. Dafür kann man maßgeschneiderte Präventionsprogramme entwickeln. In Nordrhein-Westfalen haben wir das mit zehn- bis zwölfjährigen Gymnasiasten schon erprobt: Szenarien entworfen für Rollenspiele, in denen geübt wurde, etwa mit Hänseleien selbstbewusster umzugehen. Oder aufgeklärt über die Schäden, die Diäten anrichten können. Oder sich in kleinen Gruppen einfach mal im Spiegel betrachten und sich darüber austauschen. Es zeigte sich nach zwei Jahren, dass diejenigen, die das Training absolviert hatten, stabil blieben in ihren Einstellungen gegenüber Figur und Gewicht und ein gesundes Essverhalten beibehielten. Eine Vergleichsgruppe von Schülern ohne ein solches Training entwickelte dagegen Probleme. Das könnte Teil einer umfassenden Gesundheitserziehung an den Schulen werden, auch im Zusammenhang mit der Drogen- und Gewaltprävention. Auch da spielt schließlich die Selbstwertproblematik eine Rolle.

Autor: arü

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