Moral ist von der mentalen Fitness abhängig

Schuld und Sühne sind sehr alte Themen der Menschheit. Wer moralische Fehltritte begeht, fühlt sich in aller Regel schuldig – und versucht, reuig und zerknirscht den Fehler wiedergutzumachen und seinen Ruf zu rehabilitieren.

So nutzt das schlechte Gewissen auch der Gesellschaft, wie Psychologen seit längerer Zeit wissen. Forscher der Université de Genève und der Ohio State University School of Communication haben nun aber herausgefunden, dass es von der eigenen emotionalen Verfassung abhängt, ob ein Schuldbewusstsein überhaupt entwickelt wird.

Die Wissenschaftler um Hanyi Xu wandten für ihre jüngst im Fachblatt "Journal of Experimental Social Psychology" erschienene Studie ein bewährtes sozialpsychologisches Paradigma an.

Das Modell des US-Psychologen Roy Baumeister gründet auf der sogenannten Ego-Depletion, was so viel wie Selbsterschöpfung bedeutet. Es besagt, dass die Selbstkontrolle oder Willenskraft einer Person begrenzt ist.

Kapazität zur Regulation von Gefühlen ist begrenzt

Demnach gibt es nur eine gewisse Kapazität, die der Mensch dafür zur Verfügung hat, eigene Gefühle zu regulieren und zu kontrollieren. Wenn wir uns zu einer Handlung entschließen, die unserem eigentlichen Willen widerspricht – beispielsweise eine Diät durchzuführen –, kostet das also Kraft. Ist diese verbraucht, greifen wir nach drei guten Diät-Tagen dann doch zur Bratwurst mit Pommes.

Vor dem Hintergrund des Konzepts untersuchten die Wissenschaftler, inwieweit Selbstkontrolle, Schuld und soziales Verhalten zusammenhängen. Sie teilten ihre Versuchsteilnehmer zunächst per Zufall in zwei Gruppen ein.

Beide Gruppen sahen einen recht unangenehmen zehnminütigen Videoclip über geschlachtete Tiere. Dabei sollte die erste Gruppe keinerlei Emotion nach außen hin zeigen, also ihre negativen Gefühle kontrollieren. Die zweite Gruppe dagegen durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Im Anschluss versuchten die Forscher, bei allen Probanden ein Schuldgefühl zu provozieren, indem sie sie mit den anderen Versuchsteilnehmern interagieren ließen. Diese "guilt-inducing procedure" war darauf angelegt, einer anderen Person Schaden zuzufügen.

Den Probanden wurden fünf Sekunden lang Illustrationen gezeigt, auf denen sie erkennen sollten, ob 17, 19 oder 21 Gesichter abgebildet waren. Weil es schier unmöglich war, die teils versteckten Konterfeis in der Kürze der Zeit richtig zu identifizieren, mussten die Teilnehmer raten.

Versuchsteilnehmer mit Lautstößen traktiert

Bei einem Fehler wurde der nachfolgende Proband aber mit einem 100 Dezibel lauten Geräusch traktiert. Jeder Teilnehmer war mit seiner Einschätzung also verantwortlich dafür, wie sehr sein Nachfolger gepeinigt wurde.

Verschärfend kam hinzu, dass die Fehler auf die nächsten Teilnehmer übergingen, sodass sich die "Schallstrafen" summierten. Unterliefen dem ersten Teilnehmer drei Fehler und dem zweiten fünf, so musste der dritte Versuchsteilnehmer acht Lautstöße über sich ergehen lassen.

Als weitere Variable brachten die Psychologen das "prosoziale Verhalten" ins Spiel. Damit wollten die Wissenschaftler herausfinden, ob das provozierte Schuldgefühl beeinflusste, wie generös die Probanden wurden. Zum einen führten sie dazu das Diktator-Spiel durch.

Dabei weist ein Teilnehmer sich und einem anderen einen selbst gewählten Geldbetrag zu, wobei der Adressat das Angebot nicht ausschlagen darf. Zum anderen ermöglichten sie den Spielern, sich durch eine Spende an eine wohltätige Organisation "freizukaufen". Dann mussten die Probanden auf einer Skala angeben, wie sehr sie ein schlechtes Gewissen plagte.

Wer Gefühle unterdrückt, fühlt sich weniger schuldig

Das Ergebnis: Die Teilnehmer, die beim Film zuvor ihre Gefühle unterdrücken mussten, fühlten sich im Durchschnitt weniger schuldig und gaben sowohl beim Diktator-Spiel als auch für den wohltätigen Zweck deutlich weniger Geld aus.

Die weniger erschöpften Teilnehmer dagegen gaben mehr Schuldgefühle an und zeigten sich spendabler. "Das Experiment belegt, dass es einen negativen Zusammenhang zwischen Erschöpfung und bewusster Schuld und dem damit korrespondieren Sozialverhalten gibt", resümiert Mitautor Brad Bushman von der Universität Ohio.

Die Teilnehmer, die ihre Emotionen unterdrückten, hatten folglich nach dem Video weniger mentale Ressourcen. So blieb das schlechte Gewissen auf der Strecke.

Die Wissenschaftler vermuten, dass durch die Selbstkontrolle vor allem die Fähigkeit zur Empathie leidet. "Der Befund ist insofern interessant, als er aufzeigt, dass gewisse moralische, bewusste Emotionen aufgrund ihrer Abhängigkeit zu kognitiven Ressourcen und mentaler Energie manipuliert werden können", schreiben die Wissenschaftler in der Studie.

Kurz: Moral hängt vom Gemütszustand ab. Wer keine Kraft mehr hat, bleibt unschuldig – zumindest im eigenen Ermessen.

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