Mehr Ritalin als angenommen – Tages

Zu viel, zu wenig oder genau richtig? Seit Jahren wird um den angemessenen Einsatz von Medikamenten bei Kindern mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper­aktivitätssyndrom) gestritten. Behörden und Ärzte wiegeln meist ab und geben sich in offiziellen Stellungnahmen überzeugt, dass alles gut läuft. Erst recht seit im Herbst zwei Expertenberichte zum Schluss gekommen sind, dass in der Schweiz keine Überbehandlung mit Ritalin und anderen Psychostimulanzien stattfinde. Wie jetzt Recherchen zeigen, basiert dieser Schluss jedoch auf wackeligen Schätzungen. Die tatsächliche Verordnungshäufigkeit in der Schweiz dürfte höher liegen als angenommen.

Die zwei Expertenberichte, auf die sich Fachleute und Ämter stützen, wurden im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und des Zürcher Regierungsrats verfasst und im November 2014 veröffentlicht. Sie stützen sich auf Daten von Krankenkassen, aus denen die Verordnungshäufigkeit von ADHS-Medikamenten hochgerechnet wurde. Für das Jahr 2012 gehen die Berichte davon aus, dass 1 bis 2,4 Prozent aller Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren Ritalin und andere Psychostimulanzien eingenommen haben. Umgerechnet sind dies bis zu 17 000 Kinder in der Schweiz.

Doppelt so viel wie Deutschland

Für Bundesrat, Zürcher Regierungsrat und viele Fachleute ist das ein plausibler Wert. «Aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten scheint die Behandlung mit methylphenidathaltigen Arzneimitteln in der Schweiz adäquat zu sein», schreibt der Bundesrat in der Folge in seinem Bericht. Die Hochrechnungen der Berichte decken sich mit gängigen Behandlungsempfehlungen: Von den rund 5 Prozent der Kinder mit einem diagnostizierbaren ADHS würde demnach rund die Hälfte entsprechende Medikamente erhalten. Gestützt werden die Schweizer Zahlen durch Studien aus Deutschland, wo die Werte ähnlich wie in der Schweiz sind, wie unter anderem im BAG-Bericht festgehalten wird.

So weit, so beruhigend – wären da nicht die Zahlen der Arzneimittelbehörden aus der Schweiz und aus Deutschland. Diese erfassen die jährlichen Liefermengen von Methylphenidat, dem Wirkstoff von Ritalin und Nachahmerpräparaten. Ein Vergleich zeigt: In der Schweiz ist pro Einwohner rund doppelt so viel Methylphenidat im Umlauf wie in Deutschland. Die beiden Behörden Swissmedic und Bfarm weisen dabei formell unterschiedliche Zahlen aus, trotzdem lassen sie sich durchaus miteinander vergleichen.

Obwohl die Diskrepanz beträchtlich ist und die Zahlen seit Jahren öffentlich zugänglich sind, reagiert man beim BAG mit Schulterzucken. «Grundsätzlich gibt es keine Hinweise darauf, dass in der Schweiz bei der Verschreibung von ADHS-Medikamenten etwas nicht gut läuft», sagt Markus Jann, Leiter Sektion Drogen. Auch bei den Kinder- und Jugendpsychiatern ist man nicht besorgt angesichts der Unterschiede: «Im Moment können wir die Diskrepanz leider nicht erklären, da uns keine vergleichbaren Rohdaten vorliegen», sagt Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) des Kantons Zürich. Sie geht weiterhin davon aus, dass die Verordnungszahlen in der Schweiz und in Deutschland sehr ähnlich sind und in beiden Ländern keine grosse Fehlversorgung stattfindet.

Für die Diskrepanz zwischen beiden Ländern könnten verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, wobei diese nicht stark zu Buche schlagen dürften. So sind in den Angaben der Arzneimittelbehörden auch Erwachsene eingeschlossen, wobei Untersuchungen von einer geringen Zahl ausgehen. Zudem unterscheiden sich Dosierung und Einnahmedauer bei jedem Kind und möglicherweise im Durchschnitt auch im Vergleich zu Deutschland. Und schliesslich besteht auch die Möglichkeit, dass die deutschen Verordnungszahlen, die ebenfalls aus Krankenkassendaten hochgerechnet wurden, danebenliegen.

Trotzdem bleibt fraglich, ob die Verordnungshäufigkeiten in der Schweiz und in Deutschland tatsächlich sehr ähnlich sind. In den Berichten von BAG und Kanton Zürich fehlen nämlich die ADHS-Betroffenen, die über die Invalidenversicherung (IV) abrechnen. Offenbar sind sie vergessen gegangen oder als vernachlässigbar betrachtet worden. Wohl zu Unrecht, wie eine Anfrage beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) zeigt. Im Jahr 2012 bezahlte die IV mehr als 13 000 Personen mit ADHS medizinische Massnahmen, über 8600 davon sind im Alter zwischen 5 und 14 Jahren. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl weiterer ADHS-Betroffener, die unter einer anderen Diagnosekategorie bei der IV erfasst wurden.

Keine zuverlässigen Fakten

Wie viele von all diesen IV-Bezügern mit Psychostimulanzien behandelt werden, konnte das BSV nicht sagen. Doch in vielen Fällen dürften ADHS-Medikamente im Spiel sein, denn laut Oskar Jenni, Leiter der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, kommt die IV nur «bei den schwerwiegendsten Störungen zur Anwendung». Die Zahlenspiele zeigen vor allem eines: In der Schweiz wird die Diskussion um ADHS-Medikamente bis heute in Abwesenheit zuverlässiger Fakten geführt. «Man kann all diesen Zahlen nur beschränkt trauen, weil sie aus unterschiedlichen Quellen stammen und Hochrechnungen sind», sagt Jenni. Und Walitza räumt ein: «Die Verschreibungshäufigkeit wurde bislang immer selektiv erfasst, mit Daten, die nicht vollständig repräsentativ sind.»

Jenni und Walitza fänden eine repräsentative Studie angebracht, die sowohl Verschreibungshäufigkeit und -dauer als auch Diagnosepraxis erfassen würde. Das würde laut Jenni mehrere Hunderttausend Franken kosten. Angesichts der Millionenbeträge, welche die Schweizer Bevölkerung jedes Jahr für Psychostimulanzien bei Kindern ausgibt, keine horrende Summe und eine Frage der Prioritätensetzung. Doch beim BAG winkt man ab: «Ich wäre froh, wir könnten eine gross angelegte Studie dazu durchführen», sagt Markus Jann. «Doch die finanziellen Mittel sind beschränkt, und es gibt wichtigere Themen.»

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 01.07.2015, 00:10 Uhr)

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