Manchmal vergesse ich, dass ich auch mal Pausen machen muss – Kicker-online




Sport-Stipendiat des Jahres 2015, Teil 3

Maike Schnittger gewann in der vergangenen Woche bei den Schwimm-Weltmeisterschaften des International Paralympic Committee in Glasgow die Bronzemedaille über 50 Meter Freistil. 2014 hatte sie bei den Europameisterschaften Platz 3 über 400 Meter Freistil belegt. Aufgrund dieses Erfolges wurde sie als Finalistin für die Wahl zum Sport-Stipendiat des Jahres 2015 nominiert. Die heute 21-Jährige leidet seit ihrem zehnten Lebensjahr an einer fortschreitenden Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, sodass sie aktuell nur noch ein Prozent ihrer ursprünglichen Sehkraft besitzt. Doch davon lässt sie sich nicht abhalten, parallel zum Leistungssport Psychologie an der Universität Potsdam zu studieren. Mit dem Anspruch, stets alles zu geben, hat die inzwischen mehrfache Weltrekordhalterin es auch im Studium immer wieder geschafft, dass bei den Noten die 1 vor dem Komma steht.

Maike Naomi Schnittger© imago

Maike, du kommst gerade von den Weltmeisterschaften mit einer Bronzemedaille zurück. Wie waren die Tage in Glasgow für dich?

Ich bin unheimlich glücklich über diesen dritten Platz, ich freue mich sehr, dass ich eine WM-Medaille mit nach Hause nehmen konnte. Die WM-Woche hatte alles andere als optimal für mich begonnen, da mich ein Magen-Darm-Virus ziemlich geschwächt hat - zumindest körperlich, vom Kopf her habe ich versucht, es nicht an mich heranzulassen. Über 100 und 400 Meter bin ich dann deutlich persönliche Bestzeiten geschwommen, über 400 Meter Freistil sogar Championship-Rekord. Allerdings wurde meine Startklasse S12 erstmals mit den weniger Behinderten S13ern zusammengelegt, sodass ich zwar die bisher schnellste S12er-Zeit bei einer WM geschwommen bin, mich über400 Meter aber trotzdem mit Platz vier begnügen musste. Umso mehr freue ich mich jetzt über die Bronzemedaille über 50 Meter.

Du besitzt nur noch ein Minimum deiner ursprünglichen Sehkraft. Wie wirkt sich diese Behinderung auf das Schwimmen aus?

Es beginnt schon nach dem Sprung ins Wasser. Ich sehe keine Leine, auch keinen Strich auf dem Boden, an dem ich mich orientieren kann. Deshalb schwimme ich immer direkt nach links, um Kontakt zur Leine zu haben. Der zweite Knackpunkt ist vor der Wende. Natürlich hat man nach Tausenden von Trainingskilometern ein Gefühl dafür, wann die Wand kommt. Aber wenn man sich schon mehrmals die Hacken aufgeschlagen hat oder beim Rückenschwimmen mit dem Kopf angeschlagen ist, dann hat man Respekt. Mit dem bloßen Auge kann man es gar nicht unbedingt erkennen, aber wir haben neulich Messungen durchgeführt: Vor der Wende nehme ich unbewusst 75 Prozent der Geschwindigkeit raus, im Grunde ist das dann wie Zeitlupen-Schwimmen.


Bewerbungs-Video von Maike Naomi Schnittger zur Wahl zum Sport-Stipendiat des Jahres: https://youtu.be/LLt57JueE7o


Neben dem Leistungssport hast du vor zwei Jahren ein Studium an der Uni Potsdam begonnen, dafür dein vertrautes Umfeld verlassen. Eine schwere Entscheidung?

Ich hatte natürlich Bedenken. Die Doppelbelastung Sport und Studium, ein neues Umfeld mit einer eigenen Wohnung, das alltägliche Leben ist für mich als sehbehinderte Athletin nicht ganz einfach. Aber ich wollte wissen, wie viel ich mit mehr Training erreichen kann. In meinem kleinen Heimatverein war die Trainingskapazität einfach beschränkt. Der Wechsel an den Olympiastützpunkt war eine Herausforderung. Doch die herzliche Aufnahme an der Uni und die Unterstützung durch den Laufbahnberater haben es mir leichter gemacht. Dennoch muss ich viel mehr Zeit und Kraft aufwenden, um alles zu meistern. Die physische und psychische Müdigkeit über viele Monate im Jahr erfordern sehr viel Disziplin. Aber dieses Gefühl, wenn man sein Ziel erreicht hat, egal ob durch eine neue Bestzeit, auf dem Siegerpodest oder eine gute Prüfung, ist mit wenig zu vergleichen. Und doch wünsche ich mir oft, der Tag hätte mehr als 24 Stunden.

Wie viele Stunden bräuchtest du denn?

Maike Schnittger mit Daniel Simon bei der 16. Verleihung der Goldenen Sportpyramide 2014 im Hotel Adlon in Berlin.© picture-alliance

An vielen Tagen könnten es schon 12 Stunden mehr sein. Ich stehe um 6.15 Uhr auf, um 7 Uhr geht's drei Stunden zum Training, direkt anschließend zur Uni bis 16 beziehungsweise 18 Uhr, danach wieder Training bis 20 oder 21 Uhr. Fünf bis zehn Stunden fehlen eigentlich immer, dann könnte ich auch mal zum Training laufen, ohne nebenbei zu essen und nicht nur immer aus der Hand. Und ich könnte auch mal mit mehr Ruhe lernen. So fällt das immer auf das Wochenende, aber dort sind oft genug wiederum Trainingslager oder Wettkämpfe angesetzt.

Und trotzdem meisterst du bisher dein Psychologie-Studium mit herausragenden Leistungen.

Es ist mir wichtig, das, was ich mache, mit 100 Prozent zu tun. Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Den ersten Monat an der Uni habe ich allerdings komplett verschenkt. Ich versuche, ein normales Leben zu führen, deshalb habe ich meinen Kommilitonen erst nach einem Monat gesagt, dass ich eigentlich nichts sehe. Dann sind sie aus allen Wolken gefallen. Ich kann auf dem Laptop nur dann etwas lesen, wenn ich mit meinem Zoom-Programm die größte Einstellung wähle. Zum Glück stehen die Folien für die Vorlesungen immer schon vorher online, denn ich muss alles über das Hören aufnehmen. Ich habe mir auch noch nie ein Buch ausgeliehen. Bisher hat das immer gut geklappt, ich bin gut darin geworden, die richtigen Informationen herauszufiltern. Aber ich warte eigentlich auf den Tag, an dem ich mit dieser Lerntechnik bei den Prüfungen auf die Nase falle.

Wenn du einen Wunsch frei hättest, damit du Spitzensport und Studium auch weiterhin gut vereinbaren kannst, dann ...

... würde ich mir wünschen, dass ich lerne, mich ein wenig mehr zu zügeln und nicht zu viele Kurse zu besuchen. Ich gehe auf in meinem Studium, es macht mir großen Spaß. Das liegt auch an meinen Kommilitonen, die mir viel helfen. Ich versuche, so gut wie möglich mit ihnen Schritt und damit Kontakt zu halten. Da vergesse ich manchmal, dass ich auch mal Pausen machen muss. Aber daran arbeite ich, im Studium und im Sport.

Interview: Heike Schönharting


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