«Ist ihr Kind behindert?»

Ein Papablog von Matto Kämpf.

Zu viel Hilfe tut einem Kind anscheinend nicht gut: Ein Vater trägt seinen Sohn. (Foto: Flickr/Gerry Thomasen)

Neulich im Coop. Die Kasse ist passiert, die 3x NEIN zu Supercard, Märkli und Kassa-Bon sind gesprochen und die Einkäufe in der Tasche verstaut. Draussen peitscht der Regen um‘s Gebäude, der Held dieser Geschichte (ich) ist müde und will rasch nach Hause. Deshalb zieht er dem Kind das Regen-Mänteli über, nimmt es an der Hand und will zum Ausgang gehen. Da spricht ihn ein Mann an:

«Ist ihr Kind behindert?»
«Nein, wieso?», frage ich etwas verdattert zurück.
«In diesem Alter kann ein Kind seine Jacke selber anziehen.»
«Kann es ja auch.»
«Wieso haben Sie dann dem Kind die Jacke angezogen?»
«Weil ich möglichst schnell nach Hause will.»
«Falsch.»
«Wie bitte?»
«Das ist falsch. Sie bevormunden ihr Kind und machen es dadurch unselbstständig. Sie stören dadurch massiv die Ich-Werdung ihres Kindes und verhindern, dass es sich als handelndes Individuum erleben kann.»
«Aha.»
«Sie verunmöglichen den Übergang vom Objekt zum Subjekt, vom behandelten Objekt zum handelnden Subjekt. Durch ihr Verhalten kann das Kind kein gesundes Selbstkonzept entwickeln, was zu einem kranken Abhängigkeitsverhältnis führen wird. Das Kind wird unselbstständig, passiv, schlecht in der Schule und am Ende ohne Job und einsam in der Welt steh»en.
«Tausendwetter. Was soll ich da sagen?»
«Sagen Sie nichts. Denken Sie darüber nach.»

Das ist ja allerhand, dachte ich beim Verlassen des Coops. Schon wollte ich angesichts des Regens das Kind auf die Arme nehmen und tragen, als ich in Gedanken schon tadelnde Stimme des Mannes hörte: Das Kind kann selber gehen, also soll es selber gehen. Vielleicht hat der Mann recht. Ich muss die verheerenden psychologischen Folgen meines Tuns bedenken und daher das Kind agieren lassen. Sonst raube ich ihm das Ego, oder die Seele, oder beides.

Das Kind hüpfte jubilierend durch den Regen, liess keine Pfütze aus, umarmte jeden Hydranten, erklomm sechs Mäuerchen – nach etwa zwei Stunden hatten wir die 500 Meter geschafft. Pflotschnass und in den erzieherischen Grundfesten erschüttert räumte ich sinnierend den Kühlschrank ein. Warum haut mich diese Psycho-Keule immer derart um? Ich zucke zusammen und werde selber zum Kind. Bevor mein Kind auf der Welt war, sass ich mit meinen Kumpeln in der Beiz und wir waren uns einig: Psychologie ist die Irrlehre des 20. Jahrhunderts. Sie lenkt vom Wesentlichen ab, von den Umständen, in denen ein Mensch lebt. Dadurch ist sie systemerhaltend. Die Psychologie delegiert die Probleme an die Einzelnen, sie ist Opium für das Individuum. Man muss die Welt politisch verstehen, nicht psychologisch, brüllten wir in die Gaststube hinaus und bestellten noch eine Runde. Aber kaum ist das Kind auf der Welt, stürzt die Psychologie von allen Seiten auf mich herab und platziert ihren Senf. Und die Psychologie weiss, was richtig und was falsch ist. Sie kennt die Folgen meines Handelns und ist auch hellseherisch begabt und vermag zu prophezeien, wie mein Kind in zwanzig Jahren sein wird.

Wenn ich zurück ans Coop-Beispiel denke und mich dazu in meiner Verwandtschaft umsehe, komme ich allerdings zu einem anderen Schluss: Dort, wo die Eltern die Kinder quasi auf den Arm genommen haben und selbst die grössten Dummköpfe mittels Unmengen von Nachhilfestunden durchs Gymnasium geschleppt wurden, da sind aus diesen Deppen schlechte Ärzte, überforderte Vorgesetzte und erbärmliche Rechtsanwälte geworden, die sehr viel Geld verdienen und ihren Holzkopf hoch erhoben in der Welt herum tragen. Hingegen die Kinder, die früh auf sich selbst gestellt waren und selbstständig die Aufgaben erledigen mussten, weil ihre Eltern sich weder selber um das nächste Referat kümmern konnten, noch finanziell in der Lage waren, sich die Hilfe zu kaufen, diese stehen heute schlechter da im Leben, haben miesere Jobs und Geldsorgen.

Fünf Minuten später ist der Kühlschrank eingeräumt, die Psychologie zurück im Tiefkühlfach und etwas eine beschlossene Sache: Ich gehe mit dem Kind an die nächste 1.-Mai-Kundgebung. Egal, ob ich es tragen, stossen, ziehen oder schleifen muss.

Matto Kämpf lebt als Autor, Filmer und Theatermacher in Bern. Er schreibt die Kolumne «Rabenvater» im Berner «Bund» («Ich sehe mich nicht mehr als Lonesome Cowboy on the never ending road to nowhere (oder so ähnlich). Nein, jetzt bin ich der Mann, der die Windeln schneller wechselt als sein Schatten.») Die Kolumnen sind als Buch im Verlag «Der gesunde Menschenversand» erschienen.

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