Hinsehen, wenn die Fäuste fliegen

Der blonde Lockenkopf wickelt so manchen um den Finger; sein Lächeln lässt dahinschmelzen. Doch manchmal tickt er komplett aus: Er brüllt, schlägt, kann sich nur schlecht beruhigen. Doch jetzt liegt er im Krankenhaus: Verdacht auf Gehirnerschütterung. Ein blau geschlagenes Auge, die Nase zerkratzt. Folgen einer Schlägerei, noch vor Unterrichtsbeginn am Morgen.

Plötzlich kam Jule* vorbei und trat auf Emil* ein. Der Schulalltag geht erst einmal weiter, ganz so, als sei nichts geschehen. Emil ist übel. Er muss sich übergeben, wirkt teilnahmslos. Davon erfahren die Eltern aber erst einmal nichts. Die Schulsekretärin ruft an, bittet darum, den Jungen abzuholen: "Ihm ist schlecht, er hat gebrochen". Von den Tritten kein Wort. Es dauert mehr als drei Stunden, bis die Klassenlehrerin endlich auf den Anrufbeantworter der Mutter spricht. Sie erzählt von dem Fußtritt und dass es sein könne, dass Emil deshalb so benommen sei. Einen Arzt ruft sie nicht.

Inzwischen ist der Achtjährige wieder zu Hause. Zwei Tage war er in der Klinik - ohne besondere Vorkommnisse. Doch in die Schule will er nicht, er hat Angst.

Ein Einzelfall? - Mitnichten. Ronny* ist elf Jahre alt und fehlt seit Monaten in der Schule. Er wird psychologisch betreut. Er hat sogar einen besonderen Betreuer zur Seite bekommen: Jugend- und Schulamt nennen dieses Angebot "Mobilen Integrationshelfer". Ausgebildete Sozialarbeiter begleiten die psychisch beeinträchtigten Kinder im Schulalltag. Auch Ronny wurde von seinen Mitschülern gemobbt und verprügelt. Seine Noten sackten rapide ab. Er war unausgeglichen und zappelig, längst verweigert er sich komplett.

Verlässliche Zahlen zu solchen Vorfällen gibt es nicht. Gemeldet werden jene Prügeleien, nach denen eine ärztliche Behandlung nötig ist. In der ganzen Bundesrepublik sind das rund 90 000 Fälle - Jahr für Jahr. Nach einer Hochrechnung soll jeder sechste Schüler, also etwa 1,5 Millionen Kinder, gemobbt werden. Lehrer versuchen, solche Probleme möglichst unter der Decke zu halten. Es könnte ja als Zeichen ihres Versagens gewertet werden, wie einige hinter vorgehaltener Hand zugeben. Nach Angaben des Thüringer Kultusministeriums geht es seit Jahren an den Hauptschulen am aggressivsten zu. Danach kommen Förderschulen, Realschulen, Gymnasien und Grundschulen. Meist sind es nur wenige Schüler, die als gewaltbereit auffallen. Und diese stammen oft aus einem Umfeld, in dem Gewalt zum "normalen Umgang" gehört.

Diplompsychologe Ingo Wagenbreth aus dem staatlichen Schulamt Eisenach sieht dennoch keine Zunahme der Gewalt. Geprügelt und gestänkert worden sei schon immer."Aber wir sind gegenüber Gewalt sensibler geworden. Das ist auch wichtig. Wir müssen hinsehen und unverzüglich handeln." Auch er habe als Junge mal zugehauen. "Das kennt wohl jeder aus seiner Kindheit." Dennoch hat auch er den Eindruck, dass Prügeleien schärfer und brutaler geworden seien.

Um so wichtiger sei die Prävention. Eltern und Lehrer müssten sich mit dem Thema intensiv befassen, betont er. Die Kinder müssten lernen, zu reden statt zu treten und sich so mit ihren Problemen auseinander zu setzen. Ein Präventionsangebot, das für nur einen Nachmittag eingekauft werde, sei daher mit Vorsicht zu genießen: "Wenn das nur einmal zum Thema gemacht wird, erzieht man noch kein Kind und keinen Jugendlichen!"

Vereine mit Kursen

Besser wären Programme, die mit Unterricht für Eltern und Fortbildung für Lehrer verknüpft würden. "Wenn die Schulen die Dinge nicht einfach laufen lassen, sondern sich bemühen, dann klappt das auch", ist Ingo Wagenbreth überzeugt. Und er weiß, wovon er spricht. Der Psychologe hat in den 70er und 80er Jahren selbst Sport unterrichtet und dann Psychologie studiert. Jetzt sammelt er seit mehr als zehn Jahren mit Programmen wie "Faustlos" und "Anti-Mobbing" sehr gute Erfahrungen an Schulen. Mit Rollenspielen, Dialog-Angeboten und Streitschlichtungshilfen schaffe man dabei ein Wir-Gefühl, das Aggressionen hemmt. "Faustlos" ist bereits für Kleinkinder und Grundschüler vorgesehen.

Außerdem gibt es in Thüringen inzwischen verschiedene Vereine, die mobile Sozialarbeit für Familien und Schulen anbieten. Einer ist der Ilmenauer Verein für Sport und erlebnisorientierte, integrative Sozialarbeit. In diesem engagieren sich ehemalige Hochleistungssportler wie Katrin Apel und Ute Oberhoffner. Der Verein bietet mobile Hilfe an Schulen oder für Familien und veranstaltet Kurse zu Erziehungsfragen.

Für Ingo Wagenbreth hat Gewalt an Schulen auch etwas mit dem gesellschaftlichen Wandel zu tun. Wenn sich in seiner Schulzeit zwei Jungs geprügelt haben, "dann wurde das hingenommen". Jetzt sei die Toleranz gegenüber Gewalt geringer geworden. "Ich begrüße das", sagt er weiter, "weil es gewaltfreier zugehen muss." Für ihn kann Gewaltprävention nicht früh genug beginnen. Am besten schon im Kindergarten.

Deshalb favorisiert er Programme wie "Faustlos". Hierbei lernen schon die Kleinen, dass ihr Verhalten andere verletzen kann. Bis zum Schuleintritt sollten sie Mitgefühl entwickelt haben. "Später verfestigen sich die Verhaltensmuster rasch" und lassen sich unter dem täglichen Druck der Schule nur noch schwer ändern. Bis zum zwölften Lebensjahr könne man Kinder noch formen und lenken. Danach werde es schwierig, sagt Wagenbreth.

Auf die Geschichte von Emil angesprochen, sagt der Psychologe: "Das ist für mich keine Gewalt." Gewalt ist, "wenn ich genau plane, jemandem zu einem gewissen Zeitpunkt wehzutun", erklärt er. Das habe Jule nicht getan.

Trotz der neuen Sensibilität für Gewalt gibt es nur wenige Ausbildungs- und Präventionsangebote für Lehramtsstudenten. Auch die Dozenten und Professoren an Fachhochschulen wie der in Erfurt widmen nach eigenen Angaben jeweils nur eine oder zwei Vorlesungsstunden pro Studienjahr diesem Thema. Das ist nach Ansicht von Bärbel Krake, Professorin für Psychologie an der Fachhochschule Erfurt, fast zu wenig.

Gewalt ist kein Problem

Der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Thüringen liegen keine konkreten Zahlen über Gewaltattacken in Schulen vor. Auch eine Mailumfrage in den Grundschulen ergab: "Kein Problem ", fasst Sprecherin Katrin Vitzmann zusammen. Egal, wo sie angefragt habe, ob in Meininger, Eisenacher, Erfurter, Hildburghäuser Grundschulen - überall die gleiche Antwort.

Das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (ThILLM) hat im Vorjahr eine praxisorientierte Reihe aufgelegt: "Kompetent gegen Gewalt". Dabei geht es unter anderem um Menschenfeindlichkeit, Mobbing, Jugendgewalt, Zivilcourage, Anti-Aggressionstraining und Amok-Prävention.

Und Emil? Er geht inzwischen wieder zum Unterricht, auch wenn jeder Morgen ein Kampf gegen die Angst ist.

 

*Namen geändert

"Faustlos" ist speziell für Kindergärten, Grund- und Sonderschulen konzipiert und fördert sozial-emotionale Kompetenzen und soll aggressivem Verhalten vorbeugen. Zudem werden an den Schulen Kinder und Jugendliche zu Streitschlichtern ausgebildet.

Beim Buddy-Konzept, das an weiterführenden Schulen angeboten wird, geht es um soziale Kompetenzen sowie um ein kooperatives und produktives Klima unter den Jugendlichen. Die Themen- und Einsatzfelder reichen vom Umgang mit Konflikten über Integration, Gestaltung der Schulkultur, Gewalt- und Suchtprävention bis zur Schulverweigerung.

"Juregio" soll unter den Lehrern Rechtssicherheit im Umgang mit Gewalt, Drogen und Extremismus im Schulalltag fördern.

"Von Aggression bis Delinquenz" ist ein Pilotprojekt für weiterführende Schulen zur Erprobung von Wegen zum abgestimmten Verhalten zwischen Schule, Polizei und Jugendhilfe, um Grenzen zu setzen und Chancen zu geben.

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