Heißes und extremes Wetter erhöht die Suizidrate

Der elfte Monat des Jahres hat einen schlechten Ruf: Denn das nasskalte Novemberwetter unserer Breiten steht im Verdacht, trübe Stimmungen hervorzurufen und sie dann auch noch ins Unerträgliche zu steigern. Es erscheint gar nicht abwegig, dass auch der Beschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, durch bestimmte Wetterfaktoren stark beeinflusst wird.

Doch hier beginnt der Streit unter den Wissenschaftlern: Es gibt massenhaft Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Wetter und der Suizidhäufigkeit befassen, aber nicht alle kommen zum gleichen Ergebnis.

Licht kann Depressionen mindern

Bei bestimmten Formen von Depressionen, die mit Suizidabsichten einhergehen, spielt offenbar die Jahreszeit tatsächlich eine Rolle. "Für Nordeuropa ist der Zusammenhang eindeutig bewiesen," sagt Christina Koppe, Medizinmeteorologin beim Deutschen Wetterdienst. "In der kalten Jahreszeit nehmen die Lichtmangeldepressionen zu, doch da ist therapeutische Abhilfe möglich."

Ersetzt man die fehlenden Sonnenstrahlen mit künstlichem UV-Licht, bleiben die Werte des antidepressiv wirkenden Vitamin D und des Melatonins stabil. Die Stimmung sinkt nicht dramatisch.

In den wärmeren Monaten gibt es mehr Suizide

Doch warum erreichen die Suizide weltweit ein Maximum im Spätfrühling, wenn die Sonnenstunden sich mehren? Ein Tief im Winter, gefolgt von einem Anstieg der Suizidrate in den wärmeren Monaten belegt eine Übersichtsstudie aus den 90er-Jahren, die Industrienationen wie Entwicklungsländer, meist aus der nördlichen, aber auch der südlichen Hemisphäre, vergleicht.

Finnische, belgische, slowenische und britische Analysen bestätigen das Muster, selbst aus der Inneren Mongolei, Taiwan oder Korea kennt man die saisonale Suizidverteilung, meist gefolgt von einem leichteren zweiten Anstieg im Herbst.

"Depressive neigen dazu, sich mit anderen zu vergleichen, deren gehobene Frühjahrsstimmung ihre eigene noch dunkler aussehen lässt, und fühlen sich tiefer im Keller", fasst Koppe die Ergebnisse einiger Studien zusammen, die vor allem den Kontrast der Stimmungen depressiver mit gesunden Menschen als theoretisches Erklärungsmuster beschreiben. Mehr Sonne wirke antriebssteigernd, doch die Stimmungsaufhellung stelle sich erst nach zwei Wochen ein. Bis dahin aber könne der gesteigerte Antrieb dazu führen, dass Suizidabsichten in die Tat umgesetzt werden.

Bei kaltem Wetter bringen sich weniger Menschen um

Es gibt aber auch andere Ursachen, mit denen Wissenschaftler die geringere Suizidrate bei unwirtlichen Wetterlagen zu erklären versuchen. Eine Schweizer Untersuchung von 128.322 Suiziden von 1877 bis 2000 unterstreicht den deutlichen Zusammenhang von Temperatur und verschiedenen Suizidarten: Bei moderatem Wetter springen wesentlich mehr Suizidwillige von einem Hochhaus oder vor einen Zug als bei Kälte, Sturm und Regen. Die sogenannte "lack of cold"-Hypothese besagt, dass bei Suizidabsichten im Freien sehr niedrige Temperaturen eher hemmend wirken.

Es ist natürlich immer ein komplexes Geflecht aus allen möglichen individuellen Faktoren, die direkt und indirekt die Suizidrate beeinflussen. Biologische, physiologische und neurochemische Prozesse sind verwickelt, und die Assoziation von Suizid mit psychischen Erkrankungen ist belegt. Der Einfluss der Wetterverhältnisse scheint unbestreitbar, doch ist alles andere als präzise zu bestimmen.

Immerhin gehen 1,8 Prozent der globalen Gesamtsterblichkeit auf Suizide zurück, in Deutschland nahmen sich 2010 rund 10.000 Menschen das Leben, 75 Prozent davon waren Männer.

Eine Untersuchung von 50.000 Suiziden in England und Wales zwischen 1993 und 2003, die im "British Journal of Psychiatry" im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, ermittelt eine durchschnittliche Temperatur von 18 Grad Celsius – und jedes weitere Grad mehr ließ in diesen zehn Jahren die Suizidrate um jeweils vier Prozent ansteigen.

Auch Dürren können indirekt zum Suizid führen

Eine Studie, die vor Kurzem im amerikanischen Fachmagazin "PNAS" erschienen ist, sucht Ursachen für den dramatischen Anstieg der Selbstmordraten während ausgedehnter Dürreperioden. Ivan Hanigan vom National Centre for Epidemiology and Public Health an der Australian National University hatte sich die Suizidraten in ländlichen Gebieten von Südaustralien genauer angesehen.

Demnach steigt die Suizidrate auf acht Prozent, wenn 300 Millimeter weniger Regen als im Durchschnitt fallen. Vier Fünftel von ihnen sind Männer, die meisten zwischen 30 und 49 Jahren. Meist sind es Farmer und Landarbeiter, die ihrem Leben ein Ende setzen – und damit sind Suizide für neun Prozent aller Todesfälle in dieser Altersgruppe verantwortlich. Dieser Anteil gilt für die gesamten 38 Jahre des Untersuchungszeitraumes von 1970 bis 2007.

"Das Suizid steigt mit hohen Temperaturen," fasst Ivan Hanigan zusammen und weitet den Blick auf die Ursachen über physiologische oder psychologische Befunde hinaus. "Eine Reihe von Umweltfaktoren beeinflusst die seelische Gesundheit, und wenn die Umweltbedingungen sich verschlechtern, ist mit steigenden Raten psychischer Erkrankungen zu rechnen." So sei ein Zusammenhang zwischen Luftfeuchtigkeit mit Konzentrationsschwächen und Müdigkeit belegt, steigende Temperaturen mit steigenden Kriminalitätsraten, Aggressionen und Suiziden assoziiert.

Lange Trockenperioden verursachen Stress

"Die Ergebnisse dieser Studien mögen widersprüchlich sein, doch sie finden sich im Konsens, dass extreme oder ungewöhnlich niedrige wie hohe Temperaturen mit seelischen Problemen einhergehen", sagt Hanigan. "Die globale Erwärmung lässt damit rechnen, dass Aggressionsniveau, Suizide und Krankenhauseinweisungen steigen", verweist er auf eine erste amerikanische Studie zu diesem Zusammenhang, die 1998 im Journal der American Psychological Association veröffentlicht wurde.

Lange Trockenheitsperioden mit hohen Temperaturen verursachen finanziellen Stress für Farmer und ländliche Gemeinden: Die Zinsen steigen, die Preise fallen, die Exporte nehmen ab.

Vor allem Männer sind gefährdet

Umweltverschlechterungen schlagen sich in psychischem Stress nieder, der während der Dürre stark zunimmt. Das Verkaufen oder Töten hungernder und durstender Tiere, die Austrocknung von Feldern, Weideland, Gärten oder Weinbergen, die manchmal schon seit Generationen in Familienbesitz waren, belasten Farmer und ihre Familien. "Vor allem Männer sind gefährdet", sagt Ivan Hanigan.

Damit spricht er einen zweiten großen Unterschied in den Suizidraten auf der ganzen Welt an. Wäre nur das Wetter Auslöser für Suizide, müsste es beide Geschlechter gleich treffen, denn vor dem Wetter sind Männer und Frauen gleich. Doch bei Weitem mehr Männer als Frauen nehmen sich das Leben.

Für Australien vermutet Ivan Hanigan, "dass Frauen mit Stress besser klarkommen. Sie haben besseren Zugang zu sozialen Unterstützungsnetzwerken, tragen persönliche Verantwortung für ihre Familien und auch für ihre depressiven Partner. Sie gehen schwere Zeiten pragmatischer an und zeigen mehr Resilienz", erklärt er.

Zerstörte Existenzen, verlassene Heimat, verlorener Besitz, Schulden, sozialer Abstieg, sich auflösende Familienverbände und schrumpfende Landgemeinden sind direkte Folgen von Klimabedingungen, die vor allem die Landwirtschaft betreffen und sich für die elf südaustralischen Regionen mit ohnehin schon langen Trockenperioden und hohen Temperaturen besonders drastisch auswirken.

In Australien verschärft der Klimawandel die Lage

"Der Klimawandel verschärft die Situation auf dem Land", betont Ivan Hanigan und hält weiter steigende Suizidraten für wahrscheinlich. Die Kombination aus weniger Regen, größerer Verdunstung, verdorrtem Boden und riesigen Ernteeinbußen beschädigt die Landwirtschaft – und bedroht die Menschen, die von ihr leben nicht nur physisch, sondern auch psychisch.

Dem Klimawandel geschuldet, könnte der Trend der zunehmenden Erwärmung und der Verlagerung der Tiefdrucksysteme in Richtung beider Pole in den Weltregionen zwischen dem 25. und 40. Längengrad dramatische Folgen haben, die sich nicht nur wirtschaftlich und gesellschaftlich, sondern auch emotional und sozial niederschlagen – in den Weltregionen zwischen dem 25. und 40. Breitengrad, aber auch darüber hinaus.

Wetterextreme werden auch bei uns häufiger, intensiver und wahrscheinlicher, unterstreicht der Projektbericht zur Auswertung regionaler Klimaprojektionen für Deutschland, den die ressortübergreifende Behördenallianz aus Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Technischem Hilfswerk, Deutschem Wetterdienst und Umweltbundesamt Ende Oktober vorstellte.

Ein Temperaturanstieg um 1,5 bis 3,5 Grad gilt bis zum Ende des Jahrhunderts als wahrscheinlich, doch auch Hagelschlag, Starkregenfälle und wärmere Monatsmittel sind häufiger zu erwarten.

"Extreme Wetterlagen bedrohen nicht nur die Landbevölkerung, sondern auch Hausbesitzer, deren Häuser durch Hochwasser oder Erdrutsche zerstört werden", sagt Christina Koppe. Wenn die Existenz bedroht sei, verstärkten sich psychische Probleme – nicht über das Wetter direkt, sondern über den wirtschaftlichen Druck, der entsteht. "Nicht das Wetter bringt die Menschen um. Es ist nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt", sagt Christina Koppe und spricht den November frei. "Es muss andere Hauptursachen geben, sonst kann das Wetter da nicht wirken."

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  • Kürzeres Leben

    Die Depression gilt als wichtigste Krankheitsursache für den Verlust gesunder Lebensjahre durch gesundheitliche Einschränkungen, die mit dem internationalen Indikator YLD („years lost due to disability“) gemessen wird. Das liegt vor allem daran, dass eine überstandene Depression keine Garantie für die Zukunft ist.

  • Rückfälle

    Das Risiko, nach einer depressiven Episode innerhalb von fünf Jahren erneut zu erkranken, liegt bei etwa 50-70 Prozent. Bei einem Drittel der Betroffenen verläuft die Krankheit chronisch, kommt also in Episoden lebenslang wieder. Von diesen chronisch Erkrankten haben zwei Drittel ihre erste depressive Episode bereits vor dem 20. Lebensjahr.

  • Zu wenig behandelt

    Je früher ein Kind eine angemessene Behandlung bekommt, desto besser ist deshalb die Prognose für die kommenden Lebensjahre. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass bisher nur jedes dritte bis vierte depressive Kind behandelt wird.

  • Suizid-Risiko

    Depressive Kinder unterliegen einem um das dreifach erhöhte Risiko, später einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Eine frühe Behandlung kann daher Leben retten.

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