Heiner Flassbeck: Zehn Mythen der Krise – Saarländische Online

Flassbeck widerlegt beispielsweise den aktuellen Mythos, nach dem die Staatsschulden die eigentliche Ursache der Krise sind

Edition Suhrkamp digital, Berlin 2012, 60 Seiten, 4,99 Euro

Rezension von Klaus Ludwig Helf

In ihren zahlreichen transnationalen Untersuchungen haben die Psychologen Stephan Shepherd (Kanada) und Aaron Kay(USA) festgestellt, dass bei komplexen persönlichen, politischen oder wirtschaftlichen Themen die meisten Menschen zu wenig Basiswissen haben und oft eine beharrliche Ignoranz an den Tag legen. Statt ihre Defizite durch Informationen auszugleichen, lagern sie die Themen psychologisch in die Köpfe der Regierenden aus. Sie fühlen sich unwohl dabei, etwas oder jemanden zu kritisieren, von dem sie abhängig sind. Das führe zu einer psychologischen Kette von Reaktionen, die das politische System, und den status quo weitgehend stabilisieren und grundlegende Reformen erschweren. Die Wissenschaftler geben allen „Aufklärern“ den Rat, komplexe und schwierige Themen verständlich, fokussiert und wohldosiert aufzubereiten(vgl. „Psychologie Heute“, März 2012, S.8-9).

Diese Aufgabe hat sich Heiner Flassbeck mit seiner Streitschrift zum Thema Ökonomie vorgenommen. Gegen die „Mainstream-Ökonomen“ und gegen die marktgläubigen Politiker und Journalisten will er den „Mythos des unfehlbaren Marktes“ entzaubern und zehn der gängigsten Mythen der „herrschenden Lehre“ kritisch hinterfragen und durch rationaleGegenargumente zu widerlegen: „Statt sich ernsthaft mit den Problemen auseinanderzusetzen, talkt sich die moderne Mediengesellschaft durch die Krise; man streift dabei zwar immer wieder einmal kurz die Oberfläche der Probleme, steigt dann allerdings, erschrocken ob der Abgründe, die man erblickt, sofort wieder in die warme ideologische Wolke auf…Nur Aufklärung, Entmythologisierung, kann hier eine Wende erzwingen“ (S. 9).

Heiner Flassbeck, seit Jahrzehnten Experte in Wirtschafts- und Währungsfragen, als bekennender Keynsianer streitbarer und unerbittlicher Kritiker der herrschenden ökonomischen Lehre, war 1998/1999 bei Oskar Lafontaine Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen und ist seit 2003 Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD). Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, deren Konzentrat jetzt als Streit- und Aufklärungsschrift vorliegt. Im ersten Mythos „Finanzmärkte sind effizient und fördern unseren Wohlstand“ entlarvt der Autor das idyllische Bild vom Marktplatz wo Anbieter und Nachfrage den Preis aushandeln und das Dogma der effizienten Finanzmärkte:

„Man kann die Fehlfunktion der Finanzmärkte auf die einfache Formel bringen, dass normale Märkte Knappheit beseitigen, also zu Preissenkungen tendieren, während Finanzmärkte Knappheit schaffen, also zu Preiserhöhungen tendieren. An einem normalen Markt wird ein Investor belohnt, wenn er als erster eine Knappheit in Gestalt »zu hoher Preise« erkennt und beseitigt; an den Finanzmärkten hingegen wird der Investor belohnt, dem es gelingt, möglichst viele »Investoren« in einen Markt zu locken, was zu Preiserhöhungen führt. Seine Kunst ist es nur, als erster wieder auszusteigen, also rechtzeitig zu de-investieren“(S. 14).

Der zweite Mythos, den Flassbeck zerstört, ist der, dass die Regierungen erkannt hätten, dass sie handeln müssten. Auf Grund von Vorurteilen und dem massiven Druck von Lobbys und von „Experten“ hingen die Regierungen dem ersten Mythos an. Die Weltwirtschaft schlittere in die zehnte große Finanzkrise der letzten dreißig Jahre, „ohne dass man bei der Analyse der Ursachen auch nur einen Millimeter weitergekommen wäre“ (S. 17).

Flassbeck widerlegt auch den aktuellen Mythos, nach dem die Staatsschulden die eigentliche Ursache der Krise seien. Eindeutig sei es nachzuweisen, dass die Eurokrise andere Ursachen habe und dass weltweit die Schulden eindeutig nach der Finanzkrise und wegen der von ihr ausgelösten Rezession und der Rettung von Banken gestiegen seien. Nach dem marktliberalen Credo werde jedoch die Schuld daran allein dem Staat zugewiesen. Die deutsche Forderung nach einer in der Verfassung verankerten „Schuldenbremse“ für alle Länder der Eurozone sei gegen die herrschende ökonomische Lehre gerichtet und zerstöre die Grundlagen für eine funktionierende Marktwirtschaft: „Suggeriert man dem Bürger…, dass er zwar sparen darf, die anderen aber gleichwohl ihre Einnahmen und Ausgaben ausgleichen sollen, dann ist dies gefährlicher Unsinn, weil man damit ein Rezept verordnet, dass zwingend darauf hinaus läuft, dass die Wirtschaft in einer schweren Rezession und einer immerwährenden Schrumpfung versinkt.“ (S. 20).

Diese Botschaft von den bösen Schulden und dem guten Sparen werde jeden Tag gebetsmühlenhaft in den Nachrichten verbreitet und der Bürger mit „einem schrecklichen Gebräu aus wirtschaftlichem Halbwissen und ideologisch vorgekochter Brühe übergossen, dem er niemals entkommen kann“(S. 20/21). Gegen die Schuldenbremse wendet Flassbeck ein, dass, wenn der Staat sich nicht verschuldet und die privaten Haushalte sparen, eine andere Wirtschaftspolitik eingeschlagen werden müsse: Die Unternehmen müssten gezwungen werden, sich zu verschulden und in Sachanlagen zu investieren. Die deutsche Wirtschaftspolitik betreibe das genaue Gegenteil: „Sie fördert die Unternehmen bei jeder Gelegenheit mithilfe der Steuerpolitik massiv und verschafft ihnen Gewinne, die nicht erst am Markt über mühsame Sachinvestitionen verdient werden müssen“(S. 21). Die zusätzlichen massiven Lohnzurückhaltungen führten weiterhin zur Steigerung der Profite und in eine „nur absurd zu nennende“ Lage, dass Unternehmen höhere Gewinne machen, als sie investieren (S.21).

Anders als es der Mythos behauptet, habe Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit nicht etwa durch hohe Produktivität, sondern durch eine politisch inszenierte Lohndrückerei gegenüber den Partnern in der Währungsunion verbessert: „Weil Deutschland… sofort nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Verträge anfing, das gemeinsam festgelegte Inflationsziel in dem Versuch zu unterlaufen, durch Lohnsenkungen seine Wettbewerbsfähigkeit voll gegen die europäischen Partner auszuspielen, die sich nun nicht länger über die Abwertung ihrer Währungen wehren konnten, war die Währungsunion sozusagen von der ersten Stunde an auf einem Pfad in den Untergang.“ (S. 29). Damit habe sich Deutschland im Laufe von 10 Jahren einen Wettbewerbsvorsprung bei Waren und Dienstleistungen zwischen 25 Prozent (gegenüber Südeuropa) und 15 Prozent (gegenüber Frankreich) verschafft. Wenn Deutschland seine aggressive Politik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit weiter so verfolge, würden andere Länder nur tiefer in die Verschuldung getrieben. Diese Politik gefährde die Europäische Union insgesamt und öffne das Tor für einen neuen Nationalismus: „So wurschtelt sich die Weltwirtschaft in die Zukunft, von globalen und regionalen Krisen immer wieder überraschend getroffen wie von einem schweren Meteoriten aus dem Weltall. Auf der Strecke bleiben die einfachen Menschen- und dann am Ende die Demokratie“(S.56).

Flassbeck widerlegt auch den populären deutschen Mythos vom „Zahlmeister Europas“, weil Deutschland „unsolide Staaten“ unterstütze. Griechenland und andere Länder in Finanznöten hätten als Mitglieder der Eurozone einen Anspruch auf Hilfe der Europäische Zentralbank als Kreditgeber; hätte diese rechtzeitig interveniert, wäre der Zins nie so hoch gestiegen.

Bei einer vorurteilsfreien Analyse der Weltwirtschaft könne man ganz klar die Ursachenkette der neoliberalen wirtschaftspolitischen Verstrickungen und Widersprüche erkennen: In den USA, in Europa und in Japan stagniere die Konjunktur, weil der private Konsum stagniere und das wiederum weil die Löhne nicht anstiegen und die Löhne stiegen nicht an wegen der Reservearmee der Arbeitslosen: „Weltweit ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, obwohl die Löhne nicht gestiegen sind, und die Arbeitslosigkeit sinkt nicht, obwohl die Löhne sinken… Da es für diese drei großen Wirtschaftsräume kein Exportventil auf dieser Welt gibt, das sie erlösen könnte, führen stagnierende private und schrumpfende öffentliche Nachfrage wegen staatlicher Konsolidierungsversuche zu einem Szenario, auf das die aufgeblasenen Finanzmärkte mit einer neuen Krise reagieren. Was als »Aufschwung« an den Finanzmärkten im Frühjahr 2009 begann, hätte von einem Aufschwung bei den Einkommen der Menschen unterlegt sein müssen, um dauerhaft Werte zu schaffen.“ (S.46).

In Deutschland sei jedoch die Politik einer einseitigen Förderung der Unternehmensgewinne durch den Staat und durch die Tarifpartner (Lohnzurückhaltung) so weit getrieben worden, dass die Unternehmen nicht mehr wüssten, wohin mit dem Geld „weshalb sie es nicht in Sachanlagen investieren, sondern es zum Kapitalmarkt tragen, um es von Investmentbankern im globalen Spielkasino mehren zu lassen“ (S. 48).

Was tun? Flassbeck hat einen keynsianischen Vorschlag: Deutschland müsse seine Wirtschaftspolitik radikal neu justieren und umsteuern zu einem Wirtschaftsmodell, in dem die Unternehmen sich verschuldeten, weil sie in Erwartung kräftig steigender Nachfrage Gewinne erwarteten und nicht nur über die Nachfrage aus dem Ausland sondern vor allem vom deutschen Binnenmarkt. Das könne aber nur durch kräftig steigende Löhne in den nächsten Jahren erreicht werden.

Flassbeck gelingt es in hervorragender Weise, seine Sicht der Ökonomie plausibel auch für Laien darzustellen und Lust auf mehr Informationen und Zusammenhänge zu wecken; er verzichtet deshalb auf theoretische Details, macht aber deutlich, dass es keine„neutrale” ökonomische Wissenschaft gibt und fordert auf zu einem offenen Diskurs.

Wer durch das schmale Bändchen zum kritischen Nachdenken angeregt wurde und noch mehr über alternative Handlungsmöglichkeiten erfahren möchte, ist vom Autor aus seine Webseite eingeladen www.flassbeck.de . Dort finden wir weitere Stellungnahmen und Hinweise zum Nachschlagen und Vertiefen, ebenso interessante Audio-Dateien und Videos zu aktuellen Wirtschaftsfragen.

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