"Geschädigte Enkelgeneration"

Göttingen (epd).
Die Berlinerin Anne Barth führte ein Nomadenleben. Ständig hatte sie Angst, sich niederzulassen, Urlaubsreisen fanden nur spontan und überstürzt statt. Dass dies mit der Flüchtlingsgeschichte ihrer Mutter am Ende des Zweiten Weltkrieges zusammenhängt, erfährt die 42-Jährige erst vor drei Jahren, als sie das erste Mal auf andere "Kriegsenkel" trifft. Gemeinsam gründeten sie das Internetforum www.forumkriegsenkel.de für Betroffene.

Mittlerweile sei das Thema in der Gesellschaft angekommen, erzählt Barth am Sonnabend am Rande einer bundesweiten Fachtagung der "Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie" in Göttingen. Zum Thema "Die Kinder der Kriegskinder" waren rund 140 Teilnehmer zu zahlreichen Vorträgen erschienen.

"Meine Mutter hat mir immer mitgegeben, dass ich Bildung stets behalten kann, aber niemals mein Hab und Gut", sagt die Erziehungswissenschaftlerin. Das habe sie zeitlebens geprägt. Die Probleme der beiden Nachkriegsgenerationen - der im Krieg aufgewachsenen Kriegskinder und der zwischen 1960 und 1975 geborenen Kriegsenkel - seien manchmal schwer zu trennen.

Barths Schicksal ist kein Einzelfall. In den vergangenen zwei Jahren hat sie mehr als 1.000 Mails von Betroffenen mit ihren Lebensgeschichten erhalten. "Jedes Mal rührt es mich zu Tränen", sagt sie. Das Internetforum hat monatlich mehr als 1.500 Besucher, mit steigender Tendenz. So beschreibt Nutzer A.E., wie die Großeltern am Küchentisch ihre Überlebensängste und Heldenfantasien auf das Enkelkind übertrugen. "Ich weiß jetzt: Das war seelischer Kindesmissbrauch."

Viele der Nutzer schreiben, dass sie sich endlich nicht mehr allein und unverstanden fühlen, sagt Barth. Die meisten seien erleichtert, endlich einen Grund für ihre Probleme im Leben zu kennen. So schreibt ein Nutzer: "Ich merke nun, dass ich mein Leben lang versucht habe, in ein Raster zu passen, das von Flucht, Heimatverlust, Schmerz und Angst geprägt war." Es sei ein Raster, das die Eltern vorgegeben hätten.

Barth ist sicher, dass das Internetforum etwas in der Gesellschaft bewegt hat. In vielen Städten hätten sich Betroffene gefunden und Selbsthilfegruppen gegründet. "Von anfänglichen vorsichtigen Annäherungen sind wir zu einer kleinen Solidargemeinschaft gewachsen."

In den Selbsthilfegruppen sei Abgrenzung immer wieder ein Thema. Viele hätten Schwierigkeiten, sich von der Verantwortung für die Schicksale der Eltern und Großeltern zu lösen. Auch die Trauerarbeit sei in vielen deutschen Familien zu kurz gekommen, sagt Barth. "Bei mir hat sich das in einer tiefen Melancholie geäußert." Die Trauer um tote Verwandte oder eine verlorene Heimat zuzulassen, sei aber sehr wichtig für die Aufarbeitung.

Nutzer A.E. hat heute noch Schwierigkeiten, Lebensbeziehungen einzugehen oder sich selbst "etwas Gutes zu tun", schreibt er. Immer noch ist er von den Kriegsleiden des Großvaters geprägt. In einer Psychotherapie hat er aber gelernt, sich abzugrenzen. So lautet sein letzter Satz im Forum: "Hau ab Opa - und mach dein Ding allein." (1028/01.04.12)

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