Geisterfahrer: Der Todfeind auf deiner Spur

Die Herbstsonne brach durch die Nebelwolken. Im diffusen Licht schritten Polizeibeamte ein letztes Mal das Trümmerfeld aus zerborstenem Blech, zersplittertem Glas und zerfetzten Kunstoffarmaturen ab. Sechs Menschen waren hier auf der A 5 bei Offenburg gestorben, nachdem ein 20-Jähriger volltrunken in den Gegenverkehr gerast war. Wolfgang Schreiber, Einsatzleiter der Feuerwehr, hatte gerade den Befehl gegeben, die Leichen aus den Autowracks und von der Straße zu bergen, da erklangen aus dem nahegelegenen Ort Kirchenglocken. „Ich dachte, wie bei einem Begräbnis“, erinnert sich Schreiber. „Das hatte etwas Friedvolles, Tröstliches, irgendwie war es pietätvoll.“

Der Horror-Crash auf der A 5 markiert bislang den Höhepunkt einer scheinbar nicht enden wollenden Serie von tödlichen Geisterfahrten

Innerhalb von nur sechs Wochen verloren 19 Menschen auf Deutschlands Asphaltpisten durch Falschfahrer ihr Leben, darunter Kinder, Mütter und Familienväter. Eine unheimliche Anzahl von Opfern wie nie zuvor. Ein statistischer Ausreißer, eine schicksalhafte Anomalie? Wohl kaum. Experten hegen den furchtbaren Verdacht, dass die ungewöhnliche Häufung solcher Unfälle kein Zufall ist, sondern dass sich Lebensmüde von den tödlichen Amokfahrten inspirieren ließen – und lassen.

Werther-Effekt nennen Fachleute solche Nachahmungstaten

Der Begriff geht zurück auf Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ im Jahr 1774. Nach Veröffentlichung des Romans, in dem der Held den Freitod romantisch stilisiert, war es zu einer Selbstmordwelle gekommen.

Tatsächlich versuchte sich nur Stunden nach dem Drama bei Offenburg ein psychisch kranker Mann im Kreis Unna (Nordrhein-Westfalen) auf der Autobahn das Leben zu nehmen. Er lenkte seinen Wagen bewusst in den Gegenverkehr und rammte ein Familienauto. Die Insassen, zwei Kinder und ihre Großeltern, überlebten – wie auch der Falschfahrer. Wenige Tage später krachte eine 45-Jährige bei München auf der A 94 in einen Sattelzug. Am Unfallort sagte sie, sie habe sich bei der Geisterfahrt töten wollen. Als ihr der Staatsanwalt tags darauf eröffnete, er ermittele gegen sie wegen eines vierfachen versuchten Tötungsdelikts, wollte die Frau davon freilich nichts mehr wissen.

Armin Schmidtke, Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, hält einen Werther-Effekt für sehr wahrscheinlich. „Die zeitliche Abfolge lässt diese Hypothese zu.“ Aus der Suizidforschung sei bekannt, dass innerhalb von zehn Tagen nach einem bekannt gewordenen Suizid die Tat womöglich imitiert werde. Ob der Geisterfahrer von der A 5 tatsächlich sterben wollte, ist unklar. Schmidtke: „Allein dass die Möglichkeit öffentlich vermutet wird, stellt im Kopf eines labilen Menschen eine Methode zur Verfügung.“

Vermutlich sind ohnehin weitaus mehr Menschen mit Selbstmordabsichten auf den Straßen unterwegs als gemeinhin angenommen

Nach einer Studie der Universität Würzburg sterben Menschen, die früher bereits eine Selbsttötung versuchten, in der Nachfolge überhäufig bei einem Verkehrsunfall. „Man kann schon annehmen“, so Schmidtke, „dass sich darunter unentdeckte Suizide verbergen.“

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