Wie unsere Entscheide entstehen

Allerdings widerlegt die Wissenschaft diese Annahme. Die Erfurter Psychologin Cornelia Betsch ist in aufwendigen Experimenten zum Ergebnis gekommen, dass es schlicht keinen Unterschied gibt zwischen den Geschlechtern. Das Fazit der Wissenschaftlerin: Frauen sollten sich nicht zu sehr auf ihre Gefühlskünste verlassen, die Männer dagegen lernen, ihrer Intuition nicht zu misstrauen.

Ohnehin sind Selbstannahmen und Wirklichkeit zwei Paar Stiefel. In unzähligen Experimenten haben Verhaltensforscher längst ermittelt, dass wir den Bauch kaum ausschalten können. Die meisten Entscheidungen des Menschen – rund 90 Prozent – gründen auf Intuitionen, fasst Yves von Cramon, Neurologe und ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, seine Forschungsergebnisse zusammen.

Und das ist dringend nötig, wenn wir bedenken, wie viele Reize, Informationen, Gedanken pro Sekunde über uns hereinbrechen. Von den Millionen Sinneseindrücken können wir nur etwa 40 mit dem Bewusstsein verwalten. Den Rest müssen wir dem «Autopiloten» überlassen. So dient uns die Intuition als «Navigationssystem», wenn es um die berufliche Karriere geht, wenn wir uns verlieben, Fussball spielen, musizieren, einkaufen oder kochen.

Natürlich widerspricht diese Annahme dem gängigen Bild vom Menschen als vollständig vernunftgesteuertem Wesen. Gefühle haben einen zweifelhaften Ruf. In der Naturwissenschaft galt die Beschäftigung mit einem so unfassbaren Stoff daher als schlicht undenkbar.

Auch die Philosophen zogen jahrhundertelang gegen die Gefühle ins Feld. Intuition hatte in ihren Konzepten keinen Platz, war allenfalls eine Angelegenheit der Frauenzimmer, die als schwach, flatterhaft unstet und unvernünftig galten. Mit dem berühmten Satz «Ich denke, also bin ich» hat der französische Philosoph René Descartes (1596–1650) die Vorherrschaft des Verstandes begründet und das Selbstverständnis des aufgeklärten Menschen für lange Zeit geprägt.

Noch heute hält sich seine These hartnäckig. So gaben in der Umfrage von BeobachterNatur knapp 30 Prozent aller Befragten an, im Alltag «praktisch nie» Erfahrungen mit der Intuition zu machen. Und 98 Prozent der Hochschulabgänger unter den Befragten gaben sogar an, sich bei wichtigen Entscheidungen ausschliesslich auf ihren Verstand zu berufen. So ist denn auch kaum erstaunlich, dass 81 Prozent der Befragten Intuition kurzerhand dem Tierreich zuordnen.

Die Skepsis gegenüber dem «göttlichen Geschenk» (Albert Einstein) erweist sich auch darin, dass zahlreiche Befragte Intuition spontan mit der Welt des Übernatürlichen verbinden. Acht Prozent behandeln Intuition als eine Glaubensfrage, sieben Prozent bringen sie in Zusammenhang mit einem sogenannten sechsten Sinn, vier Prozent mit Esoterik, drei Prozent mit Gedankenübertragung und ebenso viele mit Übersinnlichem ganz allgemein. Insgesamt steht Intuition damit bei rund jedem Vierten für etwas Irrationales, mit dem Verstand nicht Vereinbares.

Professor Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, nimmt diese Zahlen amüsiert zur Kenntnis. Zwar ist er durchaus bereit, Verständnis für den kleinen Irrtum aufzubringen. Als Wissenschaftler aber betont er, dass «Intuition nichts mit Metaphysik, Telepathie oder vergleichbaren Künsten» zu tun habe. Und schon gar nichts mit Wahrsagerei. Obwohl wir ohne Intuition– und das zeigt die Schwierigkeit des Begriffs – nicht in der Lage wären, Vorstellungen über die Zukunft zu entwickeln. Und ohne diese würden wir auch keine Entscheidungen treffen. Die «Entscheidung aus dem Bauch» erfolgt aber nicht auf Basis von Hokuspokus, sondern auf der Grundlage vorhandener Erfahrungen. Erinnerungen, die in unserem Gehirn gespeichert sind und auf die wir zurückgreifen.

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