Fehler im System mancher Wissenschaften


Alan Sokal, Wissenschaft und Cargo-Cult-Science

1996 veröffentlichte der Quantenphysiker Alan Sokal einen Artikel in einer Zeitschrift für postmoderne Philosophie und löste eine heftige Kontroverse über Sozialwissenschaften aus. Im Juli 2013 ließ er wieder von sich hören. Als Mitautor veröffentlichte er im renommierten American Psychologist die Widerlegung eines in der Positiven Psychologie viel beachteten Artikels. Der Artikel wurde daraufhin teilweise zurückgezogen. Eigentlich ein üblicher Vorgang im Wissenschaftsbetrieb.

Was zunächst wie ein üblicher Vorgang im Wissenschaftsbetrieb aus sieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Fehler im System. Allerdings nicht im System der Wissenschaft an sich. Vielmehr zeigt der Vorgang, dass das, was sich Wissenschaft nennt, nicht immer Wissenschaft ist. Gemeint sind damit nicht einzelne Publikationen, sondern ganze Fachrichtungen. Was Alan Sokal, Wissenschaft und die Ureinwohner Polynesiens verbindet erzählt dieser Beitrag in Form einer Geschichte. Eine Geschichte, in der sogar Differentialgleichungen auftauchen. Es braucht jedoch nicht mathematischer Kenntnisse, um der Geschichte folgen zu können. Ein wenig Chuzpe wie die Frage, wozu Gott ein Raumschiff braucht, genügt. Wissenschaft kocht auch nur mit Wasser. Aber nicht jeder, der Wasser kocht, ist auch gleich ein Wissenschaftler.

Vorspiel

Im Zweiten Weltkrieg wurden auf einer polynesischen Insel Luftstützpunkte errichtet. Mit befeuerter Landebahn, einem "Tower" und dem dazugehörigen Personal wie Funkern. Es wurde auch Fracht abgeworfen, zum Gefallen der Ureinwohner, die mit den zivilisierten Krieg führenden Industriestaaten allenfalls wenig Kontakt hatten, aber die verlorene Fracht (engl: cargo) sehr zu schätzen wussten. Doch der Krieg ging vorbei, die Stützpunkte wurden aufgelöst – und die Fracht blieb aus. Wenige Jahre später besuchten Forscher die Insel und waren erstaunt. Sie fanden ein längliches, vermutlich gerodetes Landstück, an dem entlang Feuer aufgestellt waren und an dessen Ende sich eine Hütte befand. Darin saß ein Mann mit Holzschalen an den Ohren, in denen Bambusstöckchen steckten. Die Ureinwohner hatten den Luftstützpunkt imitiert, in der Hoffnung, dass wieder Flugzeuge und so die begehrte Frachtstücke wieder kamen. Formal hatten sie alles richtig gemacht, doch der Erfolg blieb aus.



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Die Sokal-Affäre

Die eigentliche Geschichte nimmt ihren Ursprung im Jahre 1996. In jenem Jahr reichte der Quantenphysiker Alan Sokal einen Artikel in der beachteten Fachzeitschrift für die Philosophie der Postmoderne Social Text ein. Der Artikel wurde angenommen und unter dem Titel Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity veröffentlicht. Der Artikel hatte es in sich. Sokal legte nicht weniger dar, als dass Erkenntnisse aus Quantenphysik, Relativitätstheorie und Mathematik die Ansichten der postmodernen Philosophie stützen. Eigentlich sensationell, wurde hier doch eine fundierte Brücke zwischen den "harten" und den "weichen" Wissenschaften geschlagen. Als ob sich ein lange offen währender Kreis schließt.

Zu der sozial-naturwissenschaftlichen Revolution kam es jedoch nicht. Denn wenige Wochen später ließ Alan Sokal die Bombe platzen. Er gab bekannt, dass sein Artikel lediglich eine Parodie auf die Philosophie der Postmoderne war und völligen Nonsens beinhaltete (Ende der Wissenschaft?).

Denn Sokal imitierte in seinem "Scherz-Artikel" hoch gelobte Beiträge namhafter Philosophen der Postmoderne, indem er von obskurem Fachjargon überladene Versatzstücke postmoderner Philosophen sinnlos zusammenstückelte. Es wurden für die menschliche Erkenntnis weit reichende Behauptungen aufgestellt, die entweder nicht, durch zirkuläre Begründungen[1] oder durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse[2] belegt wurden. Letzteres gilt als interdisziplinäre Vorgehensweise.

Wie jene Philosophen belegte Sokal seine Behauptungen nach dem Paradigma interdisziplinärer Vorgehensweise. Die Relativitätstheorie besagt, dass jede Beobachtung nur vom Beobachter abhängt und Erkenntnis nur relativ und nicht absolut sei. Die Heisenbergsche Unschärferelation macht eh jede menschliche Erkenntnis unscharf und die Quantenphysik zeigt, dass klar definierte Zustände wie "Wahr" und "Unwahr" gar nicht existieren.[3] Gewürzt hatte er seinen Artikel mit der Behauptung, dass neueste physikalische Erkenntnisse darauf hinweisen, dass morphogenetische Felder mit der Quantengravitation eng verknüpft seien.

Sokal demonstrierte, dass es in der postmodernen Philosophie möglich war, völligen Unfug zu publizieren, sofern Artikel durch unverständlichen Fachjargon Aussagen vernebelt werden, nichts aussagen und der Unfug sich in ein wissenschaftliches Gewand kleidete und Wissenschaftlichkeit so lediglich imitierte. Vielleicht in Folge seines Artikels wurde der Postmodern Text Generator entworfen. Ein Programm, das sinnlose aber intellektuell scheinende Texte der Postmodernen Philosophie, gemischt mit feministischen Versatzstücken, generiert. Nach der Offenbarung von Sokal entbrannte eine heftige Kontroverse. Angegriffen wurde er weniger von Postmodernisten, sondern von Sozial- und Geisteswissenschaftlern, die nicht Adressaten seines Artikels waren. Sie fühlten sich in ihrer Substanz heftig angegriffen. Sie warfen Sokal hauptsächlich vor, dass die "harten" Wissenschaften die Deutungshoheit über die Realität und das Sein an sich reißen, alternative Vorstellungen ausblenden – Stichwort: Pluralität[4] – und so Macht ausüben[5] –Stichwort: Gender Studies – würden.[6] Dies ging in der Wissenschaftsgeschichte als die Sokal-Affäre ein.

Positive Psychologie

Die Geschichte setzt sich an einem anderen wissenschaftlichen Ort fort– zunächst ohne Alan Sokal. In den 1990er Jahren formulierte der Psychologe Martin Seligman, er amtierte 1998 als Präsident der wirkungsträchtigen American Psychological Association, das Paradigma der Positiven Psychologie. Statt sich auf psychisch krank machende Faktoren (Affekte) zu konzentrieren und sie heilen zu wollen, rückt das neue Paradigma positive psychische Affekte in den Vordergrund. Denn wenn sie überwiegen, kann der Mensch aufblühen (orig.: flourish), ansonsten vegetiert er dahin (orig.: languish). Dabei soll die Psychologie auf eine empirisch-wissenschaftliche Basis gestellt werden.[7] Wichtige empirisch belegte positive Faktoren sind unter anderem Elternschaft, Heirat, Religion oder soziale Verbindungen. [8] Eine der wichtigsten Vertreter der Positiven Psychologie ist die US-amerikanische Psychologin Barbara Fredrickson. Sie entwickelte die Broaden-and-build-Idee und leistete viel beachtete Beiträge zur Positiven Psychologie. Sehr große Aufmerksamkeit erfuhr ihr der im Jahr 2005 veröffentlichte Artikel "Positive Affect and the Complex Dynamics of Human Flourishing, den sie zusammen mit dem Psychologen Marcial Losada in der renommierten und einem strengen Peer-Review-Verfahren unterliegenden Fachzeitschrift American Psychologist veröffentlichte. Der wurde in den Folgejahren vielfach zitiert, von Martin Seligman hoch gelobt und diente als Vorlage für Fredricksons Buch "Positivity: Top-Notch Research Reveals the 3 to 1 Ratio That Will Change Your Life".

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"Die komplexe Dynamik menschlichen Erblühens"




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