«Es gibt einen steten Rückgang von Gewalt» – Tages

Schlägereien im Ausgang, Folter im heimischen Keller, Bombenattentate: Wir scheinen in einer Welt entfesselter Gewalt zu leben. Oder nicht? Starautor Steven Pinker relativiert in seinem neuen Buch.

«Mir ist nicht daran gelegen, die westliche Zivilisation zu rehabilitieren»: Starpsychologe Steven Pinker.

«Mir ist nicht daran gelegen, die westliche Zivilisation zu rehabilitieren»: Starpsychologe Steven Pinker.
Bild: Wikipedia

Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 1178 Seiten, 36.40.-

Der in Harvard forschende Wissenschaftler Steven Pinker beschäftigt sich vornehmlich mit Fragen der kognitiven Psychologie und der Psycholinguistik. 2004 wurde er vom «Time Magazine» als einer der 100 bedeutensten Wissenschaftler und Intellektuellen der Welt geehrt. (Foto vom 7. Januar 1998) (Bild: Keystone )

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Herr Pinker, was hat Sie dazu bewogen, ein Buch zu schreiben, das den Niedergang der Gewalt feststellt? Von überall her erreichen uns Bilder zwischenmenschlicher und kriegerischer Gewalt.
Lange bevor ich mit der Arbeit an meinem Buch begonnen habe, sind mir schon eine Reihe von Indizien aufgefallen, die auf einen Rückgang von Gewalt in der westlichen Gesellschaft schliessen lassen. Seit dem Mittelalter ist die Mordrate in Europa um den Faktor 35 zurückgegangen, das heisst im Mittelalter gab es 35 Morde je 100'000 Einwohner. Heute liegt die Rate bei einem Mord pro 100'000 Einwohner. Ein anderes Beispiel ist die Tötungsrate bei Stammeskriegen, die um ein Vielfaches höher lag als die der beiden Weltkriege zusammengenommen. Wir leben seit 65 Jahren in einer Welt relativen Friedens, ohne nennenswerte Kriege zwischen verfeindeten Staaten. Es gibt noch eine ganze Reihe von anderen Beispielen aus dem alltäglichen Leben wie Gewalt in der Ehe oder Gewalt gegen Kinder. Ich habe mich gefragt: Über die Jahrhunderte sind Gewaltphänomene im Rückgang begriffen. Gibt es dann eine Art Verbindung zwischen diesen Entwicklungen? Das war der Motor, dieses Buch zu schreiben.

Wie sind Sie vorgegangen?
Ganz einfach: Ein Jahr habe ich nur gelesen, alle greifbaren Bücher zur Kriminal-, Kriegs- und Kulturgeschichte gelesen. Dann habe ich mir alle Studien zur Gewaltgeschichte vorgenommen und deren Zahlenmaterial ausführlich studiert. Mein Buch versammelt dieses Material in über Hundert grafischen Tafeln und Diagrammen. Viele Gewaltforscher behaupten etwas, ohne ihre Behauptungen mit Zahlen zu belegen. Aber ohne Zahlen sind ihre Behauptungen völlig bedeutungslos. Das von mir untersuchte Zahlenmaterial scheint – einmal abgesehen von geringfügigen regionalen Abweichungen und kurzfristigen Zahlensprüngen – darauf hinzuweisen, dass es einen kontinuierlichen Rückgang von Gewalt gibt. Meine Grundannahme geht davon aus, dass die menschliche Natur komplex ist und dass jeder Mensch weder ausschliesslich gut noch schlecht ist. Das menschliche Gehirn hat eine ganze Menge an Mechanismen, die Gewalt ermöglichen, aber auch eine ganze Menge, die Gewalt verhindern helfen.

Alltägliche Gewalt auf der Strasse, in öffentlichen Verkehrsmitteln hat in Deutschland und der Schweiz vermehrt die Alarmglocken schrillen lassen. Wie vereinbaren Sie diese Phänomene mit Ihrer These?
Es ist schon eine gewisse Ironie dabei, wenn ausgerechnet im modernen Deutschland und der Schweiz die Furcht vor einer mehr und mehr gewalttätigen Gesellschaft anwächst. Die Schweiz und Deutschland sind – was öffentliche Gewalt angeht – die derzeit wohl sichersten Plätze auf der Erde. Die subjektive Furcht vor zunehmender Gewalt hängt sicher auch damit zusammen, dass das Thema «Gewalt» vermehrt in den Medien abgebildet wird. Jeder Mensch auf der Welt, der ein Mobiltelefon besitzt, ist zugleich auch ein Sensationsreporter. Bilder und Filme von alltäglicher Gewalt gelangen unmittelbar vom Schauplatz des Geschehens ins Internet. Wo auch immer in der Welt Gewalt stattfindet, werden wir in kürzester Zeit Zeuge dieser Vorkommnisse. Vor hundert Jahren war das noch anders: Ob ein Sack Kartoffeln in China umfällt oder nicht, hat niemanden in Europa interessiert. Wir sind sensibler gegenüber Gewalt. Jede Form oder jeder Ausbruch von Gewalt stimmt uns sogleich pessimistisch oder verängstigt uns im grossen Masse. Früher gehörte Gewalt zur Alltagskultur und hat die Leute wahrscheinlich weniger tangiert als heute.

Relativiert Ihre Sichtweise nicht den Schrecken der letzten hundert Jahre?
Mir ist nicht daran gelegen, die westliche Zivilisation, in deren Namen viele schreckliche Verbrechen begangen wurden, zu rehabilitieren. Ich möchte lediglich die Dinge beim Namen nennen. Die Kolonialkriege, der Holocaust waren alles Verbrechen aus der Mitte westlicher Zivilisation. Das ist richtig. Daneben hat der Westen aber Grundwerte wie Meinungsfreiheit und Demokratie befördert. Das Prinzip des gewaltfreien Widerstandes allerdings kommt aus Indien von Mahatma Gandhi. Was Afrika angeht, so herrschen dort je nach Region mittelalterliche Verhältnisse. Einige «Warlords» agieren wie blutrünstige Ritter, die nach Belieben rauben, vergewaltigen, morden und foltern. Das ist nur möglich, weil die normative starke Hand eines Staates fehlt wie zum Beispiel in Somalia.

Welche andere Perspektive haben Sie als Neurowissenschaftler, wenn Sie das statistisch und faktenbasiert betrachten?
Neurowissenschaften sind nicht allmächtig. Man kann keine Probanden in einem Feldversuch zum Töten auffordern, um herauszufinden, was sich dabei wohl in ihrem Gehirn abspielt. Man muss sich für ethisch vertretbare Alternativen entscheiden, wie Experimente, die Befehlssituationen simulieren und erläutern helfen, wie und warum Menschen in Extremsituationen Gewalt und Schmerz als Mittel zum Zweck tolerieren.

Was hat Sie während der Arbeit an Ihrem Buch am meisten schockiert?
Die Vielfalt und das Raffinement mittelalterlicher Foltermethoden und wie lebendig das allgemeine Interesse an zur Schau gestellter Folter war. Selbst für mich als nüchtern analysierenden Wissenschaftler war das oft ziemlich verwirrend und schockierend.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnet)

Erstellt: 11.11.2011, 15:37 Uhr

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