Eltern auf Probe

Nach der ersten Nacht mit Pedro ist Markus* erschöpft. Sein drei Monate altes Baby hatte mitten in der Nacht Hunger, also gab er ihm den Schoppen. Doch statt wieder einzuschlafen, weinte Pedro erneut – und wollte nicht mehr aufhören. Nun ist Markus müde, sehr müde.

Pedro ist kein richtiges Baby, sondern ein computergestützter Simulator, der nach Tagesabläufen echter Säuglinge programmiert ist. Markus ist 30 und hat eine leichte geistige Behinderung. Er nimmt am Simulationstraining mit dem Real Care Baby Schweiz (Storch+) teil, einem sexualpädagogischen Bildungsprogramm, konzipiert von Wissenschaftlern des Heilpädagogischen Instituts der Universität Freiburg. Während vier Tagen und drei Nächten versorgen die Teilnehmer den Simulator selbstständig. Sie füttern das Baby, wechseln ihm die Windeln und die Kleider, lassen es aufstossen, stützen ihm den Kopf. Wenn es schreit, müssen sie es beruhigen, wenn es gluckst vor Freude, dürfen sie sich beruhigt zurücklehnen.

Der Simulator zeichnet alle Details der Versorgung auf, aber auch Versorgungslücken. Ein Chip am Handgelenk von Markus stellt sicher, dass er sich tatsächlich selbst um Pedro kümmert und nicht etwa seine Eltern oder Freunde. Am Ende des Kurses erhält er ein genaues Feedback vom Computer respektive von den verantwortlichen Betreuern. Was hat gut geklappt? Was weniger? Und wo passierten schlimme Fehler?

Die Betreuer unterstützen die Teilnehmer auch während der vier Tage mit kleinen theoretischen Blöcken, sie sind Wissensvermittler, Ratgeber und Seelsorger in einem. Sandra* etwa freut sich, dass ihr Baby ein Mädchen ist. Ihr Kollege Sven* hätte lieber einen Buben betreut. Das verlangt nach einem Gespräch.

Durchhaltevermögen trainieren

Die jungen Erwachsenen mit intellektuellen Beeinträchtigungen machen laut Projektleiterin Dagmar Orthmann Bless aus unterschiedlichen Beweggründen und immer freiwillig beim Bildungsprogramm mit. Die einen hätten einen «konkreten Kinderwunsch», andere wollten einfach einmal sehen, wie das so sei mit einem Kind. Die 31-jährige Sandra, die eine IV-Anlehre absolviert hat und derzeit in einer geschützten Werkstatt arbeitet, formuliert es so: «Es nimmt mich wunder, das mal zu erleben.» Sie wohnt selbstständig in einer Wohnung und hat einen Freund, eigene Kinder möchte sie aber nicht. Markus kann sich Kinder vorstellen – wenn er älter ist.

«Das Ziel ist, dass die jungen Erwachsenen eine realistische Vorstellung von Elternschaft entwickeln», sagt Orthmann Bless. «Sie erleben unmittelbar, was Kinder brauchen, welche Kom­petenzen sie sich als Eltern aneignen müssen und wie die Elternschaft sich auf ihre eigene Lebensgestaltung auswirkt.» Das Simulationstraining dient laut der Forscherin aber auch der Auseinandersetzung mit alterstypischen Entwicklungsaufgaben im weiteren Sinn, etwa dem Aufbauen von Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Die jungen Erwachsenen lernten, Verantwortung für das eigene Handeln zu über­nehmen sowie Rollenvorstellungen und Lebensentwürfe zu hinterfragen.

Warum aber braucht es dazu Simulatoren, wenn es doch richtige Babys gibt? «Das Simulationstraining hat lernpsychologisch grosse Vorteile», sagt Orthmann Bless. Das Wissen, dass sie Fehler machen dürften, entlaste die Teilnehmer enorm. Die jungen Erwachsenen ab 14 Jahren könnten bestimmte Situationen immer wieder üben, bis sie sie beherrschten, sie dürften Dinge ausprobieren, ohne dass das Baby ungeduldig werde oder gar zu Schaden komme. Letzteres wäre, so Orthmann Bless, auch aus ethischer Sicht «nicht zumutbar». Ein weiterer Vorteil: Die Simulatoren würden auf jede Handlung der Teilnehmer sofort reagieren, das Feedback sei «objektiv und deshalb gerecht». Es motiviere die jungen Erwachsenen nachhaltig, wenn sie merkten, dass sie etwas richtig machten.

Skeptische Fachleute

Heidi Meyer, die Mutter einer jungen Frau mit Downsyndrom, kennt das Simulationstraining mit dem Real Care Baby – und ist skeptisch. Sie könne sich nicht vorstellen, dass ein solcher Simulator für Frauen mit einer geistigen Behinderung die Realität widerspiegle. Ihre Tochter käme wohl schnell auf die Idee, dem Baby die Batterie herauszunehmen. «Im Übrigen finde ich es realitätsfremd, jungen Menschen vorzugaukeln, ein Baby würde immer ein Baby bleiben», sagt Meyer. «Die Probleme mit Kindern entstehen ja oft erst mit zu­nehmendem Alter.»

Zwei Fragen hätten auch sie zu Beginn des Projekts beschäftigt, sagt Orthmann Bless. Erstens: Nehmen die jungen Erwachsenen den Simulator ernst genug? Und zweitens: Merken sie, dass es ein Simulator ist? Beide Fragen könne sie in der Zwischenzeit klar mit Ja beantworten. Die Teilnehmer seien gleichzeitig mit viel Spass und grossem Ernst bei der Sache. «Sie handeln selbstbewusster, weil sie sich nicht dauernd Sorgen um das richtige Baby machen müssen. Sie können zielgerichtet experimentieren.»

Seit dem Projektstart von Storch+ im Jahr 2013 haben Orthmann Bless und ihre Kolleginnen rund 50 Trainings mit je rund 30 jungen Frauen und Männern durchgeführt. Etwa die Hälfte von ihnen sind intellektuell beeinträchtigt. «Fast alle Teilnehmenden sind begeistert», sagt Orthmann Bless.

Skeptisch seien hingegen viele Fachleute. Das sei bis zu einem gewissen Grad verständlich, da man Simulatoren im pädagogischen Bereich nicht kenne. Anders sei das beispielsweise in der Medizin oder in der Aviatik, wo Simulatoren gezielt eingesetzt würden. «Trotzdem ist die Zurückhaltung der Fachpersonen zuweilen etwas mühsam», sagt Orthmann Bless. «Ich würde mir wünschen, dass sie aufgeschlossener sind.» Es gebe keinen Grund, für den bisher privaten Bereich der Familie und Elternschaft keine Kurse anzubieten. Die Teilnehmer könnten nur profitieren.

Entwickelt für US-Teenager

In den USA, wo der Babysimulator erfunden wurde und zur Prävention von Teenagerschwangerschaften dient, ist die Zurückhaltung kleiner. Ebenso in Deutschland, wo zwei Diplompädagoginnen im Jahr 2000 ein pädagogisches Programm zum Simulator entwickelt haben und seither Elternpraktika in vielen deutschen Schulen und Einrichtungen etabliert haben.

Der Mehrwert des Projekts Storch+ der Universität Freiburg besteht unter anderem in der Weiterentwicklung des Programms für Menschen mit intellek­tuellen Beeinträchtigungen. «Es ist nicht so, dass Personen mit geistigen Behinderungen oder Lernschwierigkeiten das Simulationstraining besonders nötig haben», sagt Orthmann Bless. «Doch wenn sie am Training teilnehmen möchten, soll dieses möglichst praxisnah und in leicht verständlicher Sprache gestaltet sein, so dass sie auch wirklich davon profitieren.»

Für ihre Entwicklung hat Orthmann Bless vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) 66'000 Franken erhalten. Mittlerweile bietet sie auch Seminare für Fachleute an, die den Babysimulator in der Praxis einsetzen wollen. Unter ihnen sind Heilpädagogen, Sozialarbeiter, Behindertenbetreuer und Lehrer.

Was aber sagen die Teilnehmenden selbst zum Kurs? «Ich habe es genossen», sagt Sandra, die traurig war, Emma wieder abgeben zu müssen. «Sie ist halt nicht wie eine Puppe, sie lebt doch irgendwie.» Gleichzeitig weiss die 31-Jährige nun, dass sich ein Kind rasch entwickelt und in verschiedenen Lebensphasen verschiedene Ansprüche an die Eltern stellt: «Wenn es in der Schule ist, muss man bei den Aufgaben helfen. Das könnte ich nicht. Ich kann ja nicht so gut rechnen und schreiben», sagt Sandra.

Für den 30-jährigen Markus, der in einer geschützten Werkstatt arbeitet, ist klar: «Verhüten! Ich bin am Ende.» Er habe die Aufgabe unterschätzt, besonders die Nächte seien «der Horror» gewesen. Seine weiteren Pläne im Bezug auf Kinder? «Ich freue mich schon drauf, aber erst in 10 Jahren.»

* Namen von der Redaktion geändert.

(Tages-Anzeiger)

(Erstellt: 17.11.2014, 18:31 Uhr)

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