Ein Drink an der Bar mit einer Sexforscherin

Die Sexforschung ist immer ein Ergebnis des Zeitgeistes. Eine völlig unabhängige Forschung gebe es nicht, erfährt man beim Gespräch mit der Berner Sexologin und Genetikerin Andrea Burri. Fremdgehen, Sex-Toys, G-Punkt oder welches Geschlecht die deftigeren Fantasien hat – ein Gespräch über die  angenehmste Nebensache der Welt.

In ihrer unkonventionellen Gesprächsreihe «Ein Drink an der Bar mit…» präsentieren der Journalist Christian Nill (Agentur Storyline Zürich) und der Fotograf Mischa Scherrer spannende Köpfe aus Gesellschaft, Politik und Kultur. Nachzulesen auf Bar-Storys.ch oder hier.

Christian Nill_Frau Burri, die letzten fünf Jahre verbrachten Sie in London am King’s College. Nun treffen wir uns in Zürich. Weshalb?

Andrea Burri_Ich versuche wieder vermehrt in der Schweiz Fuss zu fassen. Die Forschungsmöglichkeiten in London haben sich für mich ein wenig erschöpft. Ausserdem vermisste ich meine Heimat.

Und da kommen Sie als Bernerin, die in London lebte, nach Zürich?

Genau. Ich hatte ja in Zürich Psychologie studiert. Das war zwischen 20 und 25. Danach folgte ein Jahr in Hamburg und schliesslich ein halbes Jahrzehnt in London. Das war eine super Erfahrung. Aber London ist mir zu hektisch. Ich wollte wieder einmal etwas durchatmen und wieder näher bei meiner Familie und meinen Freunden sein. Ein Zwischenstopp.

Wir sind in der Tinto-Bar, im neuen Restaurant Tinto an der Zürcher Langstrasse. Gefällt es Ihnen?

Ja. Es sieht ein bisschen iberisch aus. Und das gefällt mir, schliesslich bin ich halbe Portugiesin. Ausserdem hat es einen guten Mix und ist modern.

Was trinken Sie?

Einen süssen Weisswein. Was genau, weiss ich nicht. Hauptsache süss.

Das entspricht dem klassischen Klischee.

(lacht) Dann erfülle ich es zu 100 Prozent. Ich glaube, Frauen haben wirklich lieber süsse Sachen.

Bevors unter die Gürtellinie geht, würde mich interessieren, an welchen Forschungsprojekten Sie zurzeit arbeiten.

Hauptsächlich versuche ich spezifische Gene zu identifizieren, die sexuelle Funktionen und Funktionsstörungen beeinflussen können. In einem konkreten Studienprojekt versuche ich zu eruieren, wie viel Biologie in sexuellen Funktionsstörungen von Frauen enthalten ist und wie weit Umwelteinflüsse verantwortlich sind. Ausserdem forsche ich weiterhin an evolutionstheoretischen Ansätzen zur  sexuellen Orientierung.

Worum geht es da?

Auch wieder um die Frage, ob es ein gesellschaftliches Konstrukt ist und bzw. oder ob die sexuelle Orientierung eine biologische Basis hat. Genau dasselbe mache ich auch mit psychosomatischen Störungen wie z.B. Fibromyalgie.

Eine Sexualforscherin beschäftigt sich mit Fibromyalgie?

Ja, weil es Theorien gibt, welche sexuelle Funktionsstörungen den psychosomatischen  oder sogar somatoformen Störungen zuordnen. Störungen also, bei denen keine organischen Befunde vorliegen und psychologische Faktoren eine gewichtige Rolle spielen. Hervorgerufen beispielsweise durch zu viel Stress. Das war schon immer ein Forschungsfokus von mir. Aber das wird meist nicht gross erwähnt.

Die Medien reagieren auf andere Reizwörter.

Richtig. Ich kann das zehn Mal sagen, aber wenn ich einmal das Wort «Sex» benutze, dann interessieren sich die Medien nur noch dafür.

Wir sind auch nur deswegen hier.

Das habe ich mir auch gedacht. (lacht)

Wie sind Sie dazu gekommen, Sexualforschung zu studieren?

Während des Psychologiestudiums hatten diverse Themen zur Auswahl gestanden, über die man Arbeiten schrieb. Und alles, was mit Sexualität zu tun hatte, interessierte mich am meisten. Damals arbeitete schweizweit praktisch nur eine Person an einer experimentellen Sexualstudie. Darüber konnte ich dann meine Masterarbeit schreiben.

Was für eine experimentelle Studie war es?

Wir verabreichten männlichen Probanden ein bestimmtes Hormon und untersuchten, ob sich Ihre Orgasmusqualität dadurch erhöhen liesse.

Um was für ein Hormon handelte es sich?

Um Oxytocin. Das wird eigentlich bei Schwangeren benutzt, um die Geburt einzuleiten. Weiter ist es als Bindungs- und Kuschelhormon bekannt. Uns interessierte, ob sich durch die Verabreichung dieses Hormons die sexuelle Erregung steigern lässt und ob sich die Männer damit besser gehen lassen können.

Wie haben Sie das getestet?

Die Männer haben onaniert, und wir zapften ihnen dabei kontinuierlich Blut ab. Natürlich haben wir auch Placebo-Kontrollen gemacht.

Und was kam dabei heraus?

Subjektiv empfanden sie den Orgasmus als qualitativ etwas besser und intensiver.

Ihr Werdegang zur Sexualforscherin war damit initiiert.

Genau. Das hat mich extrem fasziniert. Ich wusste, da will ich weitermachen. Obwohl mir viele Personen um mich herum davon abrieten und sagten, Sexualforschung habe keine Zukunft.

Landeten Sie deshalb in London?

Das war eher Zufall, weil ich in England einen Professor traf, der Genetik machte. Ich erzählte ihm von meiner Idee, Genetik und Sexualität zu verbinden.

Woher kam diese Idee?

Keine Ahnung. Ich dachte bloss, Gene interessieren mich, Sex interessiert mich – kann man das nicht verbinden? Das gabs damals noch nicht. Der Professor meinte, ich solle es probieren. Und wir hatten Glück, dass wir Geld für die Studie bekamen.

Ist die Kombination von Sexualität und Genetik in der Forschung heute verbreitet?

Gar nicht. Weltweit gibt es zwei, drei Institute, die das erforschen.

Weshalb nur so wenige?

Das Problem ist, dass Sexforschung per se tabuisiert ist. Man stösst schnell an Grenzen, die z.B. durch Ethikkommissionen vorgegeben sind. Und diese bewilligen solche Studien oft nicht. Zusätzlich ist auch die Genetik nach wie vor stigmatisiert. Viele Leute halten die Genetik für ein Teufelsinstrument. Vermutlich, weil sie es nicht verstehen und Angst haben, dass dadurch alles biologisiert und medikalisiert wird.

Die Genforschung dürfte auch deshalb umstritten sein, weil man schnell in der Eugenik landet, laut der positive genetische Veranlagungen gefördert und negative verringert werden sollen.

Ja, das ist ein grosses Problem. In der Homosexualitätsforschung ist das ein Schlüsselthema. Was würde passieren, wenn man tatsächlich eines Tages Gene finden sollte, die die sexuelle Orientierung beeinflussen? Bestünde da nicht die Gefahr eines pränatalen Screenings, bei dem man die sexuelle Orientierung des zukünftigen Kindes anschaut – und bei Nichtgefallen den Embryo abtreibt. Natürlich ist das ein Thema. Und dafür gibt es auch ethische Richtlinien. Ausserdem ist es viel komplexer, es ist nicht ein einzelnes Gen, das verantwortlich ist, sondern ein ganzer Pool von Genen, manchmal Tausende. Und diese interagieren mit der Umwelt.

Wurden Sie denn auch angefeindet?

Das nicht, nein. Aber es gibt Soziologen und auch Psychologen, die meinen Forschungsansatz nicht toll finden, die viele Vorbehalte haben. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich mit der Thematik nicht gut auskennen. Das ist in Ordnung, nicht jeder muss das gleiche gut finden. Ich bin wissenschaftlich orientiert. Vorurteile interessieren mich nicht.

Bleiben wir bei der sexuellen Präferenz. Wie kommt unsere Prägung, ob wir mehr auf Männer oder mehr auf Frauen oder mehr auf sonst irgendetwas stehen, zustande?

In erster Linie ist die sexuelle Orientierung angeboren. Wir alle haben eine sexuelle Orientierung. In welche Richtung sie geht, das ist eine andere Frage. Aus wissenschaftlicher Sicht, in Bezug auf die Genetik, hat sie ganz klar eine biologische Komponente. Das heisst man hat eine biologische Prädisposition. Aber es gibt natürlich auch hier eine starke Interaktionswirkung mit der Umwelt. Die aktuelle Forschung zieht zu wenig in Betracht, dass z.B. homosexuell nicht gleich homosexuell ist.

Wie meinen Sie das?

Es gibt ganz klar Unterschiede: Es gibt beispielsweise Frauen, die schon sehr früh, vielleicht mit vier oder fünf Jahren, merken, dass sie sich viel stärker von Frauen angezogen fühlen. Oder es gibt Frauen, die Kinder haben und mit einem Mann zusammenleben und erst mit 50 realisieren, dass sie auf Frauen stehen. Die Varietät ist grösser, als man annimmt. Ein typisches Beispiel dafür, wie eben angeborene Biologie mit Umweltfaktoren, das können z.B. Erfahrungswerte sein, zusammenwirken können.

Wie geht die Sexualforschung mit gesellschaftlichen Wertungen verschiedener sexueller Ausdrucksformen um?

Der gesellschaftliche Einfluss wird für mich erst dann interessant, wenn ich versuche, Störungen zu definieren. Was macht eine sexuelle Funktionsstörung aus? Ein Kriterium für eine Störung ist beispielsweise, wenn der Betroffene darunter leidet.

Was, wenn es sich um sexuelle Neigungen handelt, die von einer Gesellschaft abgelehnt werden?

Wie SM?

Sadomasochismus dürfte inzwischen gesellschaftlich zumindest akzeptiert sein. Ich dachte eher an Neigungen wie Zoophilie, Pädophilie oder Nekrophilie.

Da sprechen wir von Paraphilien, also von sexuellen Abweichungen. Die können am besten als sexueller Drang nach einem unüblichen Sexualobjekt oder nach unüblicher Art sexueller Stimulierung beschrieben werden und sind als Störungen klassifiziert. Die Gremien treffen sich regelmässig und diskutieren, was als Paraphilie einzustufen ist und was als ausgefallene, aber noch «norm-gerechte» sexuelle Vorlieben gilt. SM gilt nach wie vor als sexuelle Abweichung.

Von der Norm.

Ja. Und deshalb wird SM als Störung gehandelt.

Was ja sinnlos ist, da die beim SM Beteiligten sich freiwillig in Extremsituationen begeben und genau definierte Regeln einhalten.

Die grosse Debatte ist, ob es sich bei einem bestimmten Verhalten um eine Störung handelt oder nicht. Und das ist wie gesagt der Fall, wenn das Individuum darunter leidet…

Unfreiwillig leidet.

…Und es einen Leidensfaktor für die Umgebung hat oder wenn man der Umgebung Schaden zufügt. Ich beschäftige mich allerdings nicht mit diesem Thema.

Dann wechseln wir zu einem, zu dem Sie eine Studie veröffentlicht haben, die für Aufsehen sorgte: Gibt es den G-Punkt? Im Dokumentarfilm Orgasmus auf Knopfdruck, in dem Sie einen Auftritt haben, kommen Sie zum Schluss, dass sich der G-Punkt genetisch nicht nachweisen lasse. Also ist das endlich definitiv? Kann man aufhören zu suchen?

Meine Hypothese lautete: Wenn der G-Punkt ein gut definierte anatomische Entität ist, dann muss er eine genetische Basis haben. Das ist einfach so, weil alles Anatomische partiell genetisch beeinflusst ist.

Zum Beispiel ein Finger.

Genau. Alles: Haare, Haarfarbe, Haarlänge. Und diese genetische Basis für den G-Punkt haben wir nicht gefunden.

Also war Ihre Schlussfolgerung…

…dass es sein könnte, dass es ihn nicht gibt.

Ganz schön vorsichtig formuliert, Frau Wissenschaftlerin.

Es braucht weitere Studien, um das zu belegen. Eine Studie sagt nicht viel. Solche Resultat muss man immer wieder replizieren und validieren. Das Problem ist, dass es sehr wenig Studien gibt zum G-Punkt und die meisten nur auf sehr kleinen Stichproben basieren.

Sie sind also nicht repräsentativ.

Genau. Viele Leute in der Forschung haben einen Interessenskonflikt.

Wie das?

Sie machen viel Geld mit der Vermarktung des G-Punkts.

Beispiele, bitte.

Es gibt G-Punkt-Stimulationskurse, G-Punkt-Ratgeber, G-Punkt-Unterspritzung, damit er grösser wird und die Reibung intensiver, und so weiter. Es steckt eine ganze Industrie hinter dem G-Punkt. Aber…

Ja?

Was mich am meisten irritiert an dieser Sache ist folgendes: Wenn der G-Punkt wirklich so klar existent wäre, hätte man ihn längstens gefunden und nachweisen können. Niemand diskutiert über die Existenz der Klitoris. Da läuten bei mir die Alarmglocken.

Für Ihre These der Nichtexistenz des G-Punkts wurden Sie stark kritisiert.

Ja, man hielt mir dann vor, dass ich den Frauen den vaginalen Orgasmus wegnehmen wolle – den ich jedoch nie bestritten hatte. Es gibt lediglich Frauen, denen gelingt das besser, weil sie wahrscheinlich mehr oder sensiblere Nervenenden haben oder sich besser gehen lassen können.

Aber der G-Punkt ist ein Mythos?

Ein Mythos – wenn es ihn nicht gibt.

Sie machen mich noch verrückt mit Ihren wissenschaftlichen Relativierungen.

Es spielt ja im Prinzip keine Rolle. Oder höchstens in dem Sinne, dass, wenn man wüsste, dass es ihn definitiv gibt, viele Frauen etwas tun könnten, damit sie auch einen vaginalen Orgasmus haben. Viele Frauen leiden darunter, dass das bei ihnen nicht geht.

Lassen Sie uns über einige Klassiker im Bereich Sex sprechen. Zum Beispiel Fremdgehen. Wenn man gewissen Statistiken, die im Internet kursieren glauben möchte, scheint Fremdgehen ähnlich verteilt zu sein zwischen den Geschlechtern. Was ist Ihr Wissenstand diesbezüglich?

Wir haben dazu auch Forschung betrieben, auch innerhalb unserer Versuchsgruppen. Mittels Fragebogen, aber auch mit Face-to-face-Interviews. Ihr Eindruck könnte stimmen. Und Fremdgehen ist tatsächlich weiter verbreitet als man meint.

Oder hoffen würde?

Es ist immer noch so: Darüber spricht man nicht. Und wenn jemand fremdgeht, wird er geächtet. In einer unserer Versuchsgruppen, die aus Frauen im Durchschnittsalter von 55 besteht, kamen wir auf rund 30 Prozent «Fremdgeherinnen».

Also jede Dritte.

Das ist recht viel. Ich kann mir ebenfalls gut vorstellen, dass es geschlechtsunabhängig ist, weil die Frauen heutzutage viel mehr Möglichkeiten haben.

Was meinen Sie damit?

Es steht weniger auf dem Spiel als früher. Die Frauen sind finanziell unabhängiger, sie kommen öfter aus ihren Wohnungen heraus und nehmen sich öfters, was sie möchten und brauchen. Ausserdem macht es auch biologisch gesehen Sinn, dass Frauen vermehrt fremdgehen.

Weshalb?

Es gibt diese Evolutionstheorie, dass Männer fremdgehen, weil sie ihre Spermien, sprich ihre DNA, verteilen möchten. Und bei Frauen ist es so, dass sie sich immer den bestmöglichen Provider suchen. Also den Partner, der sie am besten versorgen kann. So abwegig ist diese Theorie nicht.

Sie sprachen eben von 30 Prozent der Frauen, die schon einmal fremdgegangen sind. Wie sieht es bei den Männern aus? Haben Sie vergleichbare Daten?

Wir selber haben dazu nicht geforscht, aber ich habe einmal von Zahlen zwischen 50 und 60 Prozent gelesen.

Hoppla.

Tendenz steigend, Dunkelziffer unbekannt. Es hängt natürlich auch immer von der Erhebungsmethode ab und davon, wie ehrlich die Leute beim Ausfüllen der Fragebogen sind.

Ist denn der Mensch schlicht nicht zur Monogamie fähig?

Ich glaube schon, dass er fähig ist. Man kann es sich sicherlich so einrichten, dass Fremdgehen kein Thema ist. Eine Partnerschaft ist doch etwas Schönes.

So viel zum Wort des Sonntags.

(lacht) Also ich denke, die Fähigkeit wäre da. Allerdings habe ich schon auch den Eindruck, dass die Monogamie nicht wirklich unserem Naturell entspricht. Schaut man sich andere Säugetiere an, dann gibt es praktisch keines, das monogam lebend ist. Ich wüsste nicht, weshalb man den Menschen da ausklammern sollte.

Weil der Mensch mehr ist als ein Säugetier, vielleicht?

Ich glaube nicht, dass dieser anthropologische Ansatz, dass der Mensch etwas Besseres sei als ein Tier, in jedem Fall zutrifft. Ausserdem halte ich die Monogamie für überbewertet. Beziehungsweise Polygamie ist überbewertet.

Wie meinen Sie das?

Sie wird schnell als etwas Verwerfliches hingestellt.

Ist sie das nicht?

Ich habe schon oft von Paaren gehört, die Jahrzehnte zusammen waren. Und dann passierte einmal ein Ausrutscher und gleich wird die ganze Partnerschaft infrage gestellt. Diese drastischen Konsequenzen verstehe ich nicht. Sollte man so einen Ausrutscher nicht in einem grösseren Zusammenhang sehen und entsprechend relativieren?

Muss man ein Freigeist sein, um überhaupt Sexualforschung betreiben zu können?

Wie meinen Sie das?

Freigeist im Sinne von grenzenlosem Denken, frei von moralisch-normativen Einschränkungen. Ist das eine zwingende Voraussetzung für Ihr Metier?

Definitiv. Das zeichnet einen guten Sexualforscher aus, dass man weder Berührungsängste noch Hemmschwellen kennt. Man muss fähig sein, Sachverhalte objektiv zu betrachten und unangenehme Aspekte auszublenden. Gleichzeitig muss man sich aber auch ins Individuum hineinfühlen können.

Was für Aspekte?

Manchmal kommen Leute mit Dingen zu einem Sexualtherapeut, die man sich im Traum nicht vorstellen könnte. Bis dann jemand darüber zu sprechen beginnt – und man nur noch denkt, um Himmels Willen! Solche Dinge muss man abstrahieren können. Ich denke, das fällt mir nicht schwer.

Mit «Dingen» meinen Sie wohl kaum Fremdgehen. Können Sie uns ein Beispiel nenn?

Stichwort Kannibalismus.

(Kurzes Schweigen.)

Kommt noch mehr?

Nein. Ich darf ja nicht über Patienten sprechen.

Jetzt sind wir vom Fremdgehen zu einem Thema gekommen, das ich eigentlich nicht anschneiden wollte.

Das haben Sie jetzt von Ihren Fragen. (lacht)

Eine letzte zum Thema Fremdgehen habe ich noch. Viele Menschen haben eine Art Exklusivitätsanspruch an den Partner. Was raten Sie, wenns doch mal zu einem Ausrutscher kommt, wie Sie es genannt haben?

Ich denke, da gibt es keine Standard-Ratschläge.

Schade.

Ja, aber es ist so. Ich kann nicht jedem denselben Ratschlag geben, weil jedes Individuum anders ist, sich in einer anderen Situation befindet oder andere Möglichkeiten hat.

Was denken Sie persönlich?

Ich denke, Ehrlichkeit währt wirklich am längsten. Das hat auch etwas mit Authentizität zu tun: Wenn man authentisch ist, weiss der Partner auch, woran er ist. Das ist wesentlich, denn dann kann er selber entscheiden, wie er damit umgehen will. Dass es zu emotionalen Reaktionen kommt, ist völlig normal. Wir sind ja keine stoischen Wesen. Aber wenn der grosse Crash mal vorbei ist, sollte man es differenzierter anschauen. Vielleicht auch mit Hilfe von aussen.

Möchten Sie Ihre Telefonnummer angeben?

Scherzkeks. Ich glaube einfach nicht, dass jeder Betroffene völlig easy damit umgehen kann. Und dennoch sollte man versuchen, nicht so extrem zu reagieren. Damit man im Affekt nicht etwas Wunderschönes aufs Spiel setzt. Das ist es doch nicht wert.

Ein weiteres beliebtes Thema sind die sexuellen Fantasien. Sind sie geschlechtsabhängig oder ist es eine Charaktersache, wer welche Art von Sexfantasien hat?

Gute Frage. Aber für mich schwierig zu beantworten, weil ich die entsprechende Forschungsliteratur nicht kenne.

Aber Sie haben Ihre Probanden wahrscheinlich auch dazu befragt.

Ja. Tendenziell geht aus diesen Interviews hervor, dass Frauen ebenfalls sexuelle Fantasien haben. Aber nur die wenigsten davon sind ausgefallener Natur, von denen man sagen könnte, dass sie «dirty» sind. Bei den meisten Frauen ist das Fantasie-Setting doch eher romantisch. (lacht) Ja, ich weiss, das ist ein ziemliches Klischee.

Wenn es das Ergebnis Ihrer Forschungen ist, dann ist es eine Erkenntnis.

Ich spreche hier wirklich von qualitativen Interviews, die wir durchgeführt haben, die jeweils eine bis zwei Stunden dauerten. Und Männer haben halt wirklich Fantasien, die man nicht ausführen könnte, ohne gleich ins Gefängnis zu wandern. (lacht) Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber sie legen auf jeden Fall eine grössere Fantasie an den Tag.

Warum ist das so?

Das ist wahrscheinlich dem ausgeprägteren Sexualtrieb der Männer geschuldet. Die Sexualität hat bei den Männern einen grösseren Stellenwert.

Ich höre schon die Geschlechter-Nivellierer zetern.

Kürzlich erschien eine Studie, die die Geschlechterdifferenzen komplett zu eliminieren versuchte. Da heisst es dann, Frauen und Männer seien genau gleich, die haben genau gleich viel Lust, gleich starke Fantasien, die masturbieren gleich oft und machen alles gleich.

Klingt nach Gleichschaltung.

Ja. Und faktisch stimmt es einfach nicht, dass Männer und Frauen gleich sind. Da braucht man nur die Forschungsliteratur anzuschauen. Oder die Augen offenzuhalten. Von irgendwoher kommen ja die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Es ist nicht nur ein gesellschaftliches Konstrukt, dass Männer mehr wollen als Frauen. Es liegt auch in der Biologie. Ohne das jetzt simplifizieren zu wollen. Ich finde einfach, man sollte die Männer nicht stigmatisieren und immer nur sagen, oh nein, diese Machos, wollen nur Sex. Da können sie ja nicht immer etwas dafür.

Danke.

(lacht) Handkehrum sollte man genauso wenig erwarten, dass Frauen öfter wollen sollten. Unterschiede sind doch auch schön – und stellen uns vor Herausforderungen.

Gibt es eine Art politisch korrekten Forschungsdruck?

Es gibt gesellschaftliche Trends, was gut und was gerade weniger gut ankommt. Es ist schon so, dass alle Forschungsergebnisse immer im Licht der Emanzipation angesehen werden müssen. Ein grosses Thema ist zurzeit eben, dass versucht wird, Geschlechterunterschiede zu nivellieren. Ich bekomme es persönlich zu spüren, wenn ich in einer Studie zum Schluss komme, dass Frauen weniger Lust verspüren als Männer. Da gibts dann schon Reaktionen von Leuten, die sich persönlich angegriffen fühlen, wenn etwas nicht dem Zeitgeist entspricht. Und Ethikkommissionen sind per se immer streng. Mit unseren Studien kommen wir in der Schweiz praktisch nie durch.

Das klingt ernüchternd. Im Grunde heisst das nichts anderes, als dass jedes Forschungsergebnis letztendlich immer ein Resultat des gerade herrschenden Zeitgeistes ist. Es geht also nie um absolute, empirisch nicht widerlegbare Erkenntnisse, sondern darum, was eine Gesellschaft gerade hören möchte.

Ganz so schlimm ist es nicht. Es werden nicht nur Studien publiziert, die dem Zeitgeist entsprechen, da diese ja in neutralen Zeitschriften publiziert werden, wo es um die Forschung geht.

Eben klang es noch anders.

Es gibt Themen, die schwieriger durchzubringen sind. Aber, um es salopp zu sagen: Jede Studie ist durch die Zeit beeinflusst, in der sie gemacht wird. Der kulturelle Wandel schlägt sich auch in der Forschung nieder.

Sie erwähnten, dass Sie Ihre Studien manchmal nicht publizieren können, gerade auch in der Schweiz.

Ja, gewisse Studien können nicht publiziert werden.

Weshalb?

Das hat verschiedene Ursachen. Nehmen wir zum Beispiel meine G-Punkt-Studie. Das läuft wie folgt: Man schreibt eine Studie, die dann von Experten geprüft wird. Dieses Expertenkomitee evaluiert die Studie und dann heisst es entweder Ja, das ist eine gute Studie, oder Nein, die müssen Sie verbessern. Als ich die G-Punkt-Studie einschickte, ging die natürlich an alle G-Punkt-Experten. Und die haben wie bereits erwähnt grosse Interessenskonflikte und fanden, es sei eine schlechte Studie. Also hiess es, Nein, das darf nicht publiziert werden.

Klingt nach Zeitalter des Absolutismus…

Da musste ich richtig kämpfen! Das kann ja nicht sein, dass so eine Studie nicht publiziert werden darf, weil sie einigen Zeitgenossen nicht in den Kram passt. Wissenschaft sollte ja eigentlich neutral sein.

Ist sie aber nicht?

Es ist unheimlich schwierig, sogenannte Negativ-Resultate zu publizieren. D.h. wenn etwas einer etablierten Wissenschaftsmeinung widerspricht. Das ist ein grosses Problem in der Forschung.

Aber Sie haben nicht aufgegeben und konnten Ihre «negative» Studie über den genetisch nicht nachweisbaren G-Punkt dennoch publizieren.

Was Stefan Kurt darauf antwortet, sowie weitere wissenswerte Dinge und Links finden Sie auf Bar-Storys.ch.

Open all references in tabs: [1 - 3]

Leave a Reply