Ein Captain Ahab der Prärie

Stoner“, John Williams' ursprünglich 1965 erschienener Roman, war im vergangenen Jahr ein großer Publikumserfolg und hat den bis dahin auch in den USA vergessenen Autor 20 Jahre nach seinem Tod bekannt gemacht. „Butcher's Crossing“ erschien 1960 und ist der zweite von insgesamt vier Romanen, ein Buch, in dem er sich einer ganz anderen Thematik zuwendet als dem Campusleben und dem subtilen Kammerspiel zwischenmenschlicher Tragödien. Hier erleben wir Williams als gewaltigen Epiker, der die Landschaften des Westens der USA beschreibt, wie man sie von den Malern der Hudson School kennt. Mit „Stoner“ verbindet dieser neue Roman die Virtuosität der atmosphärischen Beschreibung und die intime, illusionslose Kenntnis menschlicher Abgründe, und in diesen beiden Punkten übertrifft er „Stoner“ an Intensität.

Man könnte „Butcher's Crossing“ einen fast klassischen Western nennen, allerdings am historischen Schnittpunkt, an dem der ursprüngliche Mythos auch im Film eine neue, kritische Deutung erfahren hat. Er behält zwar die bekannten Versatzstücke bei, wie etwa die Frontier-Siedlung und die gesetzlosen Männer, die keine Vergangenheit und keine Familien haben und in der Stadt erscheinen wie die apokalyptischen Reiter, dies alles jedoch in einem ganz und gar nicht heldenhaften Licht. Es sind die Büffeljagd, das schnelle Geld und das unbestrittene Recht des Stärkeren, die die Protagonisten antreiben. Aber nur darum geht es John Williams nicht, denn selbst ein Roman über die Büffeljagd wird bei einem introspektiven Intellektuellen wie ihm zu einer atemberaubenden Studie über die Psychologie des Tötens.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, konkret im Jahr 1870, sind die großen Büffelherden des Westens schon bis auf ein paar hundert Tiere dezimiert und die indianischen Ureinwohner so demoralisiert, dass die vier Büffeljäger, die ausziehen, eine letzte legendär große Herde in den Rocky Mountains aufzuspüren, sie als Gegner nicht mehr ernst nehmen. Diese vier sind einerseits durchaus Genretypen der Freibeuter, die vom Mythos des Wilden Westens angezogen wurden, aber als Kenner der Literatur stellt Williams sie auch in die Tradition einer fehlgeleiteten Romantik.

Herman Melvilles Roman „Moby-Dick“ klingt an mit dem Thema der unschuldigen Natur, die zurückschlägt, aber vor allem der Topos der Landnahme des Westens, „the lay of the land“, dieser vieldeutige Begriff, der Vergewaltigung, Opferung, Hingabe, aber auch Saga und Lied bedeuten kann. Solche Anspielungen werden zwar nie direkt ausgesprochen, tragen aber zur Komplexität des Romans bei, denn selbst wenn er sich spannend liest, naiv oder bloß unterhaltend ist er nie.

William Andrews ist der einzige der vier Protagonisten, der eine Biografie hat. Er ist auch der jüngste, ein idealistischer Harvard-Student, den Kopf voll mit Emerson, Thoreau und dem Traum vom unverfälschten Leben jenseits der Zivilisation. Für ihn ist der Treck nach Westen die Vision vom Zauber unberührter, Ehrfurcht erregender Natur. Aber auch er bricht zur Büffeljagd auf, ohne sich über das massenhafte Töten Gedanken zu machen, und finanziert die Crew, die aus dem Jäger Miller, dem deutschstämmigen Büffelhäuter Schneider und dem verkommenen Säufer und Wanderprediger Charley Hoge besteht.

Der Roman erzählt chronologisch vom Aufbruch im Spätsommer, quer durch die Prärie in die Berge Colorados, mit Ochsenfuhrwerk und Pferden, und es erstaunt bei der Lektüre immer wieder, wie es dem Autor gelingt, eine fast unerträgliche Spannung zu erzeugen und dabei mit wenig Handlung auszukommen.

Vier Männer gegen die Natur

Die von der wasserlosen Prärie ins Gebirge übergehende Landschaft, die Strapazen unterwegs, das systematische Abschlachten zahlloser Büffel in einem rundum von Bergen eingeschlossenen Gebirgstal, das Häuten der Tierkadaver und schließlich das knappe Überleben der vier Männer unter dem Hereinbrechen der Naturgewalten werden mit einer so treffsicheren, anschaulichen Genauigkeit beschrieben, dass man sich als Leser nicht entziehen kann. Wenn sich der Erzähler ein Urteil erlaubt, so höchstens in den Beobachtungen von Will Andrews, dessen überlegener Intellekt ihm dennoch nicht hilft, sein moralisches Augenmaß zu wahren.

Höhepunkt und Zentrum des Romans ist der Kontrast zwischen dem paradiesisch friedlichen Gebirgstal mit seiner grasenden Büffelherde, den sich herbstlich verfärbenden Wäldern, den Berggipfeln rundum und dem wochenlangen Gemetzel, bis das Tal von Tierkadavern übersät ist. Hier wird mit fast unerträglicher Präzision der kalte Blutrausch des massenhaften Tötens beschrieben, so eindringlich, dass man glaubt, den auf einen gemeinsamen Nenner gebrachten Antrieb des Mordens zu begreifen. Die grauenhafte Beschreibung des Tötungsrausches, wie der Mensch zum Raubtier verkommt und mit der bösartigen Genialität, die ihn zum Herrn über die Schöpfung macht, allen Naturgewalten trotzt, ist beklemmend und fesselnd zugleich.

Miller, der Anführer des Trupps, ist einerseits umsichtig und mit seinen Instinkten der Natur am nächsten, andererseits ein besessener Killer, der es nicht erträgt, wenn ihm auch nur ein einziges Tier entkommt. Und auch der Schrecken der Gewöhnung wird an Andrews vorexerziert, der mit dem Häuten tausender Büffel Millers Weg in die Verrohung ohne Gegenwehr mitvollzieht, sich am Anfang wohl noch entsetzt abwendet, wenn die anderen unkenntlich gemacht von Pulverruß und Blut zum Camp zurückkehren, aber schließlich selbst in ein noch blutiges Büffelfell gehüllt, den Winter in den Bergen überlebt.

Auch wenn Miller die Faszination des absolut Bösen ausstrahlt, ein Captain Ahab der Prärie, so bleibt die Hauptfigur dennoch Will Andrews, der intellektuelle tumbe Tor, der aufbricht, um die Schönheit der unberührten Natur zu erfassen, sich mit ihrem Blut besudelt, schuldig wird und seiner Ideale beraubt an den Ausgangsort zurückkehrt, in ein „Butcher's Crossing“, das man auch als „Treffpunkt der Schlächter“ übersetzen könnte, eine Stadt, die in Auflösung begriffen ist.

Denn während die vier Abenteurer die letzte große Herde vernichten, sind die Büffeljagd und die Nachfrage nach Fellen längst vorbei, und alles war sinnlos und umsonst. Dass der Mensch, wenn er seine Grenzen überschreitet, in einen Bereich vorstößt, in dem ihm sein menschliches Antlitz abhandenkommt, wird am Schluss noch einmal deutlich, als Miller in seinem Vernichtungsrausch Feuer an die Felle Zehntausender von Büffeln legt. ■

John Williams

Butcher's Crossing

Roman. Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. 368 S., geb., €22,60 (Deutscher Taschenbuch Verlag,
München)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2015)

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