Doris Dörrie

Frau Dörrie, einer der beiden Protagonisten Ihres Films „Glück“ ist der Punk Kalle, der mit seinem Hund auf der Straße lebt. Was tun Sie, wenn Sie auf der Straße nach Geld gefragt werden?
Dörrie: Ich versuche, eine Verbindung aufzunehmen und die Person wahrzunehmen, ganz egal, wer mich fragt. Ich glaube, das ist das Wichtigste, dass man wahrgenommen wird, auch wenn man obdachlos ist, dass man angeguckt wird. Und wenn ich Kleingeld dabei habe, gebe ich so oft ich kann. Manchmal schaffe ich es nicht, dann ärgere ich mich oft im Nachhinein über mich, dass ich mir nicht doch den Moment Zeit genommen habe, um in meiner Tasche zu wühlen. Denn im Zweifelsfall ist es für mich jetzt nicht so schlimm, einen Euro rauszurücken.

Überlegen Sie manchmal auch, ob derjenige wirklich in einer ausweglosen Situation ist?
Dörrie: Ich gehe von der Prämisse aus, dass das niemand nur aus Jux und Tollerei macht. Niemand bettelt, weil es ihm Spaß macht. Und wenn man wirklich die Leute anschaut, dann kann man das glaube ich auch ganz gut erkennen. Ich habe mal länger in San Francisco in einer Suppenküche gearbeitet, dort gab es wirklich sehr viel großes Elend, es ist schon noch anders und sehr viel härter als hier. Und da wurde das auch geübt, den anderen wirklich wahrzunehmen.

Können Sie dem Lebensentwurf Punk etwas abgewinnen?
Dörrie: Früher - vor ungefähr 30 Jahren ja! Aber inzwischen ist das ja kein wirkliches Statement mehr. Es hat es auch ein bisschen mit Posing zu tun, mit Mode.

Und die ablehnende Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft, können Sie die nachvollziehen?
Dörrie: Nicht immer, aber ich versuche es.

Hatten Sie selbst eine Phase in Ihrem Leben, die von so einer Haltung geprägt war?
Dörrie: Ja, von 0 bis 35 hatte ich diese Phase. In der Zeit ging es natürlich noch um eine Aufarbeitung der Historie und darum, Fragen an die ältere Generation zu stellen. Das waren sehr große Fragen wie „Wer soll das jetzt sein, dieser Staat Deutschland? Sind das immer noch alte Nazis, die hier den Ton angeben? Ist das jetzt wirklich eine andere Struktur und wollen wir zu dieser Struktur dazugehören?“ Es saßen ja überall noch de facto alte Nazis rum und es war schon klar, dass ich da nicht dazugehören wollte.

Wie ist es heute?
Dörrie: Ich bin immer noch nicht so wirklich komplett in der Mitte. Ich habe als Künstlerin sowieso einen Außenseiter-Status, den habe ich natürlich auch aus gutem Grund.

Für Ihren letzten Film „Die Friseuse“ haben Sie einen Tag lang einen Fatsuit getragen – wie sind Sie jetzt an die Figur des Kalle herangegangen, der auf der Straße lebt?
Dörrie: Ich habe mich in Berlin lange an die Wilmersdorfer Straße gesetzt und beobachtet. Mich hat interessiert, wie diese Straße, wie die Struktur von so einem Stadtteil funktioniert. Und dann habe ich nachher zusammen mit Vinzenz Kiefer, der den Kalle spielt, auch sehr genau gemerkt, wie groß die Unterschiede sind, zum Beispiel dass die rechte Straßenseite sich komplett anders verhält als die linke. Je länger man da sitzt und guckt, desto größer wird der Kosmos, der sich vor einem auftut.

Kalle trifft auf der Straße Irina, die im Krieg vergewaltigt wurde, flüchtete und nun in Berlin als Prostituierte arbeitet. Wie wichtig war es Ihnen, die Rollen im Film möglichst real zu zeichnen?
Dörrie: Das mache ich mit all meinen Figuren, ich siedle die schon in der Realität an und versuche dann, sie so glaubwürdig wie möglich auch zu erzählen, mit all den Brüchen. Hier war mir sehr wichtig, dass Kalle jetzt nicht komplett drogenabhängig und verwahrlost ist, sondern jemand, bei dem das durchaus auch so ein bisschen Attitüde und Posing ist. Das war wichtig im Zusammenhang mit Irina, die dieses wirklich schwere Schicksal mitbringt, der es viel dreckiger geht als ihm. Allerdings bringt sie dann den großen Mut auf, sich so weit wieder zu öffnen, wieder zu fühlen und sich auch wieder empfänglich zu machen für das Glück und die Liebe.

Die Beziehung zwischen den beiden stellen Sie sehr romantisch da, fast frei von allen Sorgen.
Dörrie: Ihre Verletzungen tragen die beiden aber sehr stark mit sich rum, Irina ist ja eigentlich komplett gefangen in ihrem Trauma, hat dann aber diese Größe, sich nicht ausschließlich durch die Vergangenheit zu definieren. Und natürlich, wie alle, die sich verlieben, sind die beiden auch in so einem Kokon eingesponnen, klar.

Ein Rezensent nannte Ihren Film ein Märchen.
Dörrie: Das sagen die Pessimisten, dass es ein Märchen ist. Ich als Optimistin würde sagen: Ja, so eine Geschichte kann wirklich stattfinden. Sie hat ja wohl auch so stattgefunden.

„Glück“ basiert auf einer Erzählung des Autors und Strafverteidigers Ferdinand von Schirach. Kennen Sie die realen Figuren hinter der Geschichte?
Dörrie: Nein, das ist ja auch etwas, was von Schirach als Strafverteidiger ganz strikt betreibt, dass er seine Schweigepflicht einhält. Da gibt es keine Möglichkeit, die realen Beteiligten zu recherchieren.

Hätte Sie das gereizt?
Dörrie: Nein. Mich hat in dem Punkt die Fiktionalisierung interessiert, weil ich daraus einen Spielfilm machen wollte.           

Es geht in „Glück“ auch um Vergewaltigung und Prostitution. Wie schwierig ist es für Sie als Filmemacherin mit diesen Themen umzugehen?
Dörrie: Das ist natürlich brandgefährlich, weil es Themen sind, die schon hundert Mal erzählt wurden und sehr viel Ballast mit sich schleppen.
Prostitution ist etwas, was sich ganz schlecht erzählen lässt, weil die Prostitution selbst auch immer Bilder schafft und verkauft, sie ist immer auch die Inszenierung von etwas, mit dem roten Licht, den Klamotten etc. Wenn man im Film diese Inszenierung inszeniert, dann wird es oft sehr schwierig, weil man dann auch immer gleich den Mythos und die Romantik, die verkauft wird, mitbedient. Ich habe versucht, das so nüchtern und so lakonisch wie möglich zu erzählen. Wie Irina im Handumdrehen den Raum in der Wohnung verändert, bestimmte Akzente setzt und zack, ist es ein Puff . Wie sie mit dem Freier diesen ganz alltäglichen Smalltalk hat, „Wie geht es dir, wie ist die Arbeit…“

Wie haben Sie für das Thema recherchiert?
Dörrie: Ich kenne mich gut aus im Rotlichtbereich, als ich vor langer Zeit den Film „Paradies“ machte, da habe ich drei Monate auf der Reeperbahn gewohnt.

Zu Beginn des Films erzählen Sie Irinas Vorgeschichte, wie ihre Eltern im Krieg ermordet und sie vergewaltigt wurde. Wie fällen Sie die Entscheidung, was Sie davon zeigen und was nicht?
Dörrie:  Hier war es eine klare ästhetische Entscheidung, die Vergewaltigung etwas aus dem Realismus herauszuholen, mit dieser entrückten Zeitlupe, mit der Musik, die das Ganze etwas abstrakter werden lässt. Man muss dem Ganzen aber auch so viel Gewicht lassen, dass der Zuschauer merkt, dieses Mädchen startet mit einem ganz großen Paket. Darum ging es mir, den Zuschauer zwar zu belasten, ihm gleichzeitig aber noch Luft zum Atmen zu lassen und ihn nicht von vornherein in einen Abgrund zu stürzen von dem er sich überhaupt nicht mehr erholt.

Sie sorgen sich darum, den Zuschauer nicht zu viel zu belasten?
Dörrie: Ich muss ihn ja mitnehmen, in die Geschichte. Wenn der von vornherein schon sagt: „Oh Gott, das will ich jetzt echt nicht sehen, jetzt habe ich kein Bock mehr…“

Würde er das?
Dörrie: Ich glaube schon, ich glaube, wenn ich den hundertsten Kriegs-Bosnien-Vergewaltigungsfilm erzählen würde, würde ich nicht mehr die Kurve zum Glück finden. Man muss schon schauen, dass der Zuschauer am Ball bleibt.

Angelina Jolie, die in ihrem Regie-Debüt „In the Land of Blood and Honey“ von Vergewaltigungen im Bosnien-Krieg erzählt, mutet dem Zuschauer härtere Szenen zu.
Dörrie: Ich stelle es mir aber schwierig vor, wenn ich jetzt zu Ihnen sage: „Hey, wir gehen heute Abend ins Kino und gucken uns ein Vergewaltigungsdrama an.“ Ich muss mir schon Mühe geben, dass Sie irgendwie Lust haben, sich eine Geschichte anzuschauen, wo es um sehr harte Dinge geht, Sie sich aber nicht versperren und gleich wegbleiben. Wo ich Sie als Zuschauer dazu bringe, sich auch für so eine Geschichte wie die von Kalle und Irina zu öffnen.

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Wie ergeht es Ihnen als Zuschauerin, wenn ein Film Vergewaltigungs-Szenen deutlich zeigt?
Dörrie: Das muss mich schon auf eine ganz spezielle Art und Weise so fesseln, dass ich dann nicht das deutliche Verlangen habe, lieber einen Dokumentarfilm über das gesamte Thema zu sehen. Für mich ist das oft das Problem im fiktiven Kino, dass die Fiktion am Ende immer nur bis zu einem gewissen Abstand an die Realität herankommen kann. Diese Problematik existiert ja auch bei der Fiktionalisierung des Holocaust.
Wenn es ein Film ist, der sich thematisch ausschließlich damit beschäftigt, entscheide ich mich oft lieber für das wirkliche Dokument, also für den Dokumentarfilm.

Wobei ein Dokumentarfilm zum Thema Vergewaltigung Bilder des eigentlichen Verbrechens sehr wahrscheinlich aussparen würde.
Dörrie: Das stimmt nicht, es gibt inzwischen Dokumentarfilme, die Bilder einsetzen, welche Soldaten sehr bewusst davon gedreht haben, was sie an Vergewaltigungen begangen haben.

Und so etwas würden Sie sich anschauen?
Dörrie: Wenn es das Thema ist, wenn ich wirklich wissen will, wie es sein kann, dass nette junge Männer von einem Tag auf den anderen anfangen zu töten und zu vergewaltigen – ja, dann setze ich mich dem schon auch aus. Das will ich schon wissen.

Das ist hart.
Dörrie: Ja, aber das ist auch mein Job, ich muss hingucken, was die Welt angeht.

Interview: Jakob Buhre

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