Die Wochenend-Kolchose

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Was tritt ein, wenn man mit Freunden ein Ferienhaus am See kauft: Hippie-Idylle oder Hüttenkoller? Das Buch «Sommerhaus, jetzt!» ist der fulminante Erfahrungsbericht einer Stadtflucht.

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180 Quadratmeter Wohnfläche, 6000 Quadratmeter Umschwung: Das Sommerhaus.
Simone Pappler


Oliver Geyer wurde 1973 in Bielefeld geboren. In Münster, Berlin und London studierte er Publizistik, Psychologie und Politologie. Nach einigen Jahren als Texter in der Werbebranche wechselte er in den Journalismus und schreibt seither als freier Autor Reportagen für verschiedene Magazine und Zeitungen. Daneben gehört er zur Redaktion des unabhängigen Gesellschaftsmagazins «Dummy».

Oliver Geyer: «Sommerhaus, jetzt!». Blanvalet. ISBN 978-3-7645-0427-4.

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Wenn einer an einem lauen Sommerabend aus seinem Ferienhaus spaziert und vom eigenen Steg in den See springt, dann ist er entweder sehr gut verdienend oder hat gut geerbt. Oliver Geyer ist weder noch. Er arbeitet als freischaffender Journalist, das heisst: Mit seinem Salär gehört er wohl knapp zur unteren Mittelklasse. Dennoch nennt er ein 8-Zimmer-Haus mit Seezugang sein Eigen.

Der 38-jährige Deutsche ist einer von 13 Freunden, die eine Autostunde ausserhalb Berlins zusammen ein Haus gekauft haben. «Luxuserschleichung durch Gemeinschaftsfinanzierung», nennt Geyer das in seinem Buch «Sommerhaus, jetzt!», das eben erschienen ist und das Projekt detailreich und süffig schildert.

Zieht aufs Land!

Der Buchtitel bezieht sich auf die bekannte Kurzgeschichtensammlung von Judith Hermann «Sommerhaus, später». Geyers trotzig-forderndes Wortspiel bringt die Sache hübsch auf den Punkt: Ein Ferienhaus können sich die wenigsten Menschen leisten. Und falls schon, dann meistens erst, wenn man es nicht mehr dringend braucht, sprich: Wenn die Kinder erwachsen sind.

Nun, bei Geyer Co. hats geklappt – und wie: 180 Quadratmeter, zwei Stockwerke, sieben Schlafzimmer. 6000 Quadratmeter Umschwung, eine Scheune, Bäume, Sträucher und besagter See. Kostenpunkt: 63'000 Euro, finanziert durch 13 Kredite, wobei nochmals so viel an Renovationskosten ansteht.

Nun ist der Traum vom Landleben nichts Neues und Entschleunigung in aller Munde. Die Gründe dafür sind bekannt: 9 to 5-Arbeit, Pendlerschicksale und Konsum als Trostpflaster für ein uneigentliches Leben sowie Schulden, um den Konsum zu bezahlen. Auch die Ratschläge kennen wir: Kündigt die Arbeit, arbeitet frei oder in Teilzeit. Lernt ein Handwerk, baut Gemüse an, zerschneidet eure Kreditkarten. Kurz: Zieht aufs Land!

Doch nicht die Revolution vom Bauernhof aus ist es, was Geyer und Freunde im Sinn haben. Sie wollen schlicht und einfach, was sich andere Menschen über ein Ferienhaus, Schrebergarten oder Camper erfüllen: Ein Domizil im Grünen, das als Ergänzung zum Stadtleben funktioniert. Denn auf die Genüsse der Stadt wie Clubs, Shopping oder tolle Jobs in der Presse oder in der Regierungsverwaltung wollen sie nicht verzichten.

Keine ideologischen Richtlinien

Die Idee ist bestechend: Statt im Schrebergarten spiessige Zweisamkeit oder Kleinfamilientrott zu erleiden, kommt man am Wochenende quasi als temporäre Kolchose zusammen. Gleichzeitig erübrigt sich das ewige Thema jeder urbanen Jungfamilie – ob man den Kindern zuliebe aufs Land zieht oder egoistischerweise in der Stadt bleibt. Die 13 Freunde machen einfach beides, mal hier, mal dort. Und hat man genug von den anderen, bleibt man halt zu Hause. Im Unterschied zu den Fulltime-Wohnkommunen der 70er-Jahre gibt es im Ferienhaus keine ideologischen Richtlinien. Spielzeugwaffen sind erlaubt.

Apropos Kolchose, hier liegt der Hund begraben. Ein Haus bedeutet natürlich viel Arbeit. Oder wie es Geyer auf den Punkt bringt: «Das Gras auf dem Land ist grüner als in der Stadt – aber muss selber gemäht werden. Bloss von wem?» Die Anekdoten über Arbeitsteilung und Organisation gehören denn auch zu den amüsantesten (und aufschlussreichsten) des Buchs. Obwohl die Freunde mit dem festen Vorsatz begannen, keine Vollversammlungen abzuhalten, sondern «weniger Demokratie» zu haben, ging es irgendwann nicht mehr ohne – ansonsten «gute Kumpel zu Kameradenschweinen werden und andere den Peitsche schwingenden Gutsherrn in sich entdecken». Nach einem Jahr steht die Erkenntnis, dass Regeln vor allem dazu da sind, aufgeweicht und dann neu vereinbart zu werden - wozu zuerst der «innere Pedant exorziert» werden muss.

Es ist, so dünkt einen, ein akzeptabler Preis für Picknick am Steg, Bullerbü-Idylle und eine Grossfamilie gratis.

Was halten Sie von dem Projekt? Ist es auf lange Dauer umsetzbar– oder droht zwangsläufig der Hüttenkoller? Könnte man diesen Landgang auch in der Schweiz realisieren? Wo mit Kinder wohnen: Auf dem Land oder in der Stadt? Meinungen bitte unten eintragen.
(baz.ch/Newsnet)

Erstellt: 03.04.2012, 11:54 Uhr

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