Die Psychologie des Fed-Entscheids

Das Hauptereignis der letzten Tage am Finanzmarkt war der Entscheid des Federal Reserve vom 17. September, den Leitzins unverändert zu belassen. Die Marktreaktion auf diesen Entscheid erlaubt einen analytischen Rückschluss auf aktuelle mentale Modelle des Finanzmarktes. Als mentales Modell werden in der Verhaltensökonomie kognitive Repräsentationen von Problemsituationen verstanden. Es sind Abbilder der Wirklichkeit, das heisst, Zum AutorTeodoro D. Cocca, Professor für Wealth und Asset Management an der Johannes-Kepler-Universität in Linz und Adjunct Professor am Swiss Finance Institute.sie werden aufgrund äusserer Eindrücke aufgebaut, und sie ermöglichen es den Menschen, ihre Umwelt durch Schaffung logischer Wirkungszusammenhänge zu strukturieren und sich in ihr zurechtzufinden.

Schien bis anhin das gängige Denkmodell darin zu bestehen, niedrige Zinsen zu bejubeln und bei jeder Andeutung einer baldigen Zinserhöhung in Trübsinn zu verfallen, hat sich das kollektive Reaktionsmuster bei Zinsentscheidungen des Fed nun erstmals verändert. Im Rückblick muss die Marktreaktion so interpretiert werden, dass eine Zinserhöhung durch das Fed als positives Signal gewertet worden wäre, weil damit der Glaube der Zentralbank an die nachhaltige Erholung der amerikanischen Wirtschaft bekräftigt worden wäre.

Der bis anhin liquiditätsabhängige «Patient» (der Finanzmarkt) scheint damit erfolgreich therapiert worden zu sein. Das Pech des Fed ist aber nun, dass der Patient kurz vor der vermeintlich letzten Therapiesitzung erfährt, die Therapie werde doch noch verlängert. Das vermittelt das Gefühl, dass der Therapeut nicht an die Heilung des Patienten glaubt, und stürzt Letzteren in eine neue Depression. Daraus leitet sich ab, dass die Fed-Entscheidung vom 17. September von den Investoren erstmals seit langer Zeit gemäss völlig neuen kognitiven Mustern wahrgenommen wurde.

Strukturbruch im Denkprozess

Die Fed-Entscheidung wurde nicht mehr im Lichte einer mehr oder weniger akkommodierenden Geldpolitik gewertet (altes mentales Modell), sondern neu als konjunktureller Ausblick des Fed betrachtet (neues mentales Modell). Grundsätzlich sind beide mentalen Modelle völlig rational und nachvollziehbar; es geht hier lediglich um die Feststellung, dass in der aggregierten Wahrnehmung der Marktteilnehmer das neue mentale Modell nun offensichtlich höher gewichtet wird.

Eigentlich entspricht damit die mentale Entwicklung des Marktes genau dem, was das Fed wohl seit Jahren als grösste Herausforderung überhaupt sehen muss: den Markt affektiv von der chronischen Abhängigkeit von Liquiditätsspritzen zu lösen und ihm die Zuversicht zu vermitteln, auf eigenen («konjunkturellen») Beinen stehen zu können. Genau dies hat das Fed – bewusst oder unbewusst – seit dem 17. September erreicht, denn ab jetzt würde ja jede Zinserhöhung als Bestätigung dafür gesehen, dass die Notenbank eine robuste US-Wirtschaft erwartet. Die positive Marktreaktion am 25. September auf die am Vorabend von der Fed-Vorsitzenden Janet Yellen geäusserte Aussicht auf eine baldige Zinserhöhung würde in diese Sichtweise passen. Solche Strukturbrüche in den Denkprozessen, wie wir sie gerade jetzt erleben, sorgen allerdings in der Anfangsphase aufgrund der auftretenden kognitiven Dissonanzen naturgemäss für Verunsicherung, bis das neue Denkmuster fest verankert ist.

Hätte das Fed seinen Entscheid auf die Marktpsychologie abgestützt, hätte es die Leitzinserhöhung an der September-Sitzung aus rein psychologischer Sicht wohl durchführen müssen. Der realwirtschaftliche Effekt einer Zinserhöhung um z. B. 0,25 Prozentpunkte wäre wohl vernachlässigbar gewesen. Das damit initiierte psychologische Signal wäre hingegen für die Meinungsbildung des Marktes relevant gewesen und hätte leicht eine positive Informationskaskade auslösen können. Es kann die Frage aufgeworfen werden, inwieweit das Fed die Reaktion der Finanzmärkte überhaupt berücksichtigen soll, denn schliesslich muss es realwirtschaftliche Faktoren steuern und nicht jede noch so kleine sentimentale Regung des Marktes zum Problem stilisieren. Gerade die vergangenen Jahre  haben aber gezeigt, dass die Wechselwirkungen zwischen Finanzmarkt, Notenbankpolitik und Realwirtschaft eng sind. So gesehen ist es eine Notwendigkeit für jede Notenbank, die Psychologie der Märkte in ihr Kalkül zu integrieren, um die Transmissionsmechanismen ihrer Instrumente besser zu beeinflussen.

Das argumentative Korsett sprengen

Mit dem Verweis auf die Berücksichtigung globaler Ungleichgewichte im Communiqué des Fed kommt noch eine weitere Problematik für die zukünftige Entscheidungsfindung hinzu, denn mit der Öffnung der Perspektive auf globale Faktoren stellt sich die Frage, wann überhaupt ein geeigneter Zeitpunkt für den Zinsschritt kommen kann. Je weiter die Perspektive geografisch gefasst wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass irgendwo ein schwarzer Fleck das Gesamtbild trübt. Aus diesem selbstgeschaffenen argumentativen Korsett muss das Fed so schnell wie möglich herausfinden.

Gefährlich ist die Kehrseite des neuen mentalen Modells. Eine weitere Lockerung der monetären Rahmenbedingungen würde zusehends als Eingeständnis gewertet werden, dass die bisherigen geldpolitischen Massnahmen nicht gewirkt haben und die Sorgen über die konjunkturelle Entwicklung weit grösser sind als bisher angenommen. Dieser Verlust des Vertrauens in die Wirksamkeit von Zinsentscheidungen würde das eigentliche marktpsychologische Desaster des Fed darstellen.

Besonders labil wäre die Marktverfassung in diesem Fall darum, da weder das alte noch das neue mentale Modell zur Erklärung der Zusammenhänge reichen würden. Werden aus den Vorstellungen resultierende Erwartungen zu häufig von der Realität widerlegt, folgt ein Verlust mentaler Modelle, was zu erhöhter Verunsicherung führt. Diese Gefahr besteht durchaus, wenn man berücksichtigt, dass sich Notenbanken auf doch sehr unbekanntem Terrain bewegen und die Wirksamkeit der ultralockeren Geldpolitik nicht gewiss ist.

Das Herdenverhalten steuern

Ein wesentliches Verhaltensmuster ist dabei der geradezu unwiderstehliche Zwang, für jede – noch so zufälligen – Marktreaktion eine Erklärung zu finden. Da dies vielen so geht, werden assoziative Argumentationsketten nicht zuletzt dank der modernen Medienwelt tausendfach nachgebetet, was die Bereitschaft weiter erhöht, sie als plausibel zu akzeptieren.

So war eines der dominierenden mentalen Modelle der vergangenen beiden Jahre die allseits propagierte «Alternativlosigkeit» von Aktien. Wie so oft mag die dazu passende Argumentationskette durchaus auch rationale Elemente enthalten, in ihrer Absolutheit zeigt sie aber, wie einseitig Denkraster werden können. Wir fokussieren in unserer (Erklärungs-)Not auf einen Aspekt und fühlen uns bestätigt, wenn andere den gleichen Aspekt betonen, obwohl sie letztlich genauso ratlos sind wie wir selbst.

Damit wird an den Märkten durch die koordinative Wirkung eines allseits akzeptierten mentalen Modells Herdenverhalten verstärkt. Den Notenbanken kommt nun in der Steuerung dieser Herdenbewegung eine immer wichtigere Bedeutung zu, da ihre neuerdings «ultratransparente» Kommunikationspolitik jeden Analysten zwingt, jedes veröffentlichte Wort fast mit Besessenheit zu analysieren, zu hinterfragen und zu interpretieren. Die Notenbanken werden dabei als oberste Instanzen gesehen, die aufgrund eines besseren Datenzugangs die Zukunft besser einschätzen können als die Marktteilnehmer – ein ebenfalls zu hinterfragendes mentales Modell.

Mehr zum Thema

Fed könnte noch 2015 mit Zinserhöhungen beginnen

 

«Anleger sollten Volatilitätswelle reiten»

 

Die Geldschwemme setzt sich fort

lock-status

 

Europas Börsen reagieren negativ auf Zinsentscheid

 

Open all references in tabs: [1 - 4]

Leave a Reply